Wiedergeburt eines Wunderwerkes: Der Schachtürke in Paderborn - Besuch einer Veranstaltung am 25.03.2004

Begrüßung in würdigem Rahmen durch den Geschäftsführer des HNF, Norbert Ryska
Begrüßung in würdigem Rahmen durch den Geschäftsführer des HNF, Norbert Ryska

Der Abend des 25. März 2004 in Paderborn bot nicht nur für Schachhistoriker im Heinz Nixdorf MuseumsForum (HNF) einen absoluten Höhepunkt, denn das weltgrößte Computermuseum führte einen funktionstüchtigen Nachbau des „Schachtürken“ erstmalig dem staunenden Publikum vor. Erfreulich fand ich, dass diese „Wiedergeburt“ würdig eingerahmt wurde – Gratulation an den Veranstalter!
Nach einer Einführung durch den Geschäftsführer des HNF, Herrn Norbert Ryska, konnte der Festredner des Abends, Prof. Ernst Strouhal von der Universität für angewandte Kunst in Wien, mehr als 400 Zuschauer auf den kulturgeschichtlichen Hintergrund dieses „Automaten“ und dessen genialen Schöpfer, den österreichischen Staatsbeamten Wolfgang von Kempelen (1734-1804), einstimmen.

(Dieser Vortrag ist im wesentlichen im Heft 4/2002 von KARL wiedergeben – Dank an die Redaktion, insbesondere unser Mitglied Johannes Fischer, dass dieser Artikel nun im Internet zu finden ist - siehe KARL online).

Ernst Strouhal berichtet über eine interessante Randfigur der Geschichte, den in Pressburg geborenen österreichischen Hofbeamten Wolfgang von Kempelen und seine Schöpfungen sowie andere "Androiden" der Zeit.
Ernst Strouhal berichtet über eine interessante Randfigur der Geschichte, den in Pressburg geborenen österreichischen Hofbeamten Wolfgang von Kempelen und seine Schöpfungen sowie andere "Androiden" der Zeit.

Das berühmte Androiden-Trio des Mechanikers und Uhrmachers Pierre Jaquet-Droz (28.7.1721-28.11.1790) ist ein wahres Wunderwerk, es entstand um 1774 in La Chaux-de-Fonds und steht heute im Musée d'art et d'histoire in Neuchâtel.
Die Orgelspielerin (Abb. links) simulierte Atembewegungen und blickte abwechselnd auf die Noten, ihre Hände und das Publikum. Sie kann fünf verschiedene, eigens für sie komponierte Stücke spielen.
Der Schreiber (Abb. oben) kann einen beliebigen Text von bis zu 40 Zeichen schreiben. Der dritte Android, ein Zeichner, fertigt vier verschiedene Zeichnungen an.

Etwas ausführlicher ist Henner Schneider in Wissenschaftliche Grundlagen: reale und abstrakte Automaten, Abschnitt
Die Androiden der Jaquet-Droz (pdf-Datei)
(Quelle: Internet)

Die zweisprachige Website von Philippe Sayous ist vollständig den Androiden und Automaten des 18. Jahrhunderts gewidmet:
The androids and artificial animals website (in Französisch/Englisch)

Danach trat mit Unterstützung des Kempelen'schen Dieners Anthon (prachtvoll vom Schauspieler Heiko Grosche – einem bekannten Morgenstern-Interpreten – dargestellt) der Hauptakteur in Aktion – das sei durch etliche Fotos dargelegt.

Die Remispartie gegen den 1. Vorsitzenden des Paderborner Schachklubs „Blauer Springer 1926“, Herrn Michael W. Barz [1] machte zwar einen etwas „künstlichen“ Eindruck, aber immerhin traf der Mensch ja auf einen „Wiedergänger jener Maschine“, die angeblich Cartwright beim Bau des mechanischen Webstuhls und Babbage zur Konzeption seiner mechanischen Rechenmaschine inspirierte.

1770 spielte „der Türke“ vor den Augen Maria Theresias seine erste Partie, 1854 verbrannte er nach einer Endlos-Tournee durch Europa und die USA etwas angestaubt und vergessen im (chinesischen) Museum in Philadelphia. Das Innenleben des schachspielenden Apparates war eines der bestgehüteten Geheimnisse der damaligen Zeit – kein Aufklärer, weder der geballte Scharfsinn der Pariser Akademie (1783) noch Edgar Allan Poe, der den Türken 1835 beobachtete, durchblickte die geniale Konzeption des Wolfgang von Kempelen.

[1] Leider müssen wir mitteilen, dass Michael Wolfgang Barz bei einem Motorradunfall im August 2004 tödlich verunglückte, er wurde nur 41 Jahre alt.
(RJB, im Januar 2005)

Sehr zum Verdruß für den getreuen Anthon sollte aber in Paderborn das Geheimnis gelüftet werden: Norbert Ryska, der Kurator des HNF, Dr. Stefan Stein und der Schöpfer des Paderborner Nachbaus, Restaurator Bernhard Fromme, standen anschließend dem Publikum Rede und Antwort – schließlich wurde auch der „Mann im Kasten“, Joachim Schwarzmann vom Paderborner Schachklub, auf die Bühne gebeten.

Norbert Ryska interviewt Bernhard Fromme, im Hintergrund Dr. Stefan Stein.
Norbert Ryska interviewt Bernhard Fromme, im Hintergrund Dr. Stefan Stein.

Im 1,50 m breiten, 95 cm hohen und 90 cm tiefen Kasten aus Nussbaumholz konnte sich ein erwachsener Mann auch bei geöffneten Türen durchaus vor den Blicken der Zuschauer verbergen – dabei half ein ausgefeilter Mechanismus von Klappen und verschiebbaren Wänden. Der Akteur selbst saß auf einem Rollwagen, auf dem er geschickt seine Position wechseln konnte.

Im Inneren gibt es ein ausklappbares Schachbrett, mit Hilfe ausgeklügelter Mechanik überträgt ein Pantograph („Storchenschnabel“) über eine Hebelmechanik jeden Zug, den der Bediener auf dem kleinen Brett macht, nach oben auf den linken Arm des Türken. Das Geschehen auf dem großen Brett, d.h. welche Figur dort bewegt wurde, konnte der Mann in der Kiste anhand sich absenkender magnetischer Stifte erkennen.

Joachim Schwarzmann (rechts) vom Paderborner Schachklub bediente den Türken.
Joachim Schwarzmann (rechts) vom Paderborner Schachklub bediente den Türken.

Bild links:
Nach der Veranstaltung wollte es jeder ganz genau wissen, Dr. Stein – rechts hinter dem Türken - stand Rede und Antwort. Dabei wurde klar, mit welcher Präzision die Mechanik arbeiten musste – kleinste Abweichungen auf dem Brett im Kasten führen unweigerlich zu „Fehlgriffen“ auf dem großen Brett.

Bild rechts:
In der Figur sitzt weder ein Zwerg noch ein Affe – alles basiert auf geschickter Illusion und solider Mechanik – aber leider ist es kein echter „Paläo-Roboter“.

Mit dem abschließenden Empfang im Forum des Museums, wo wir großzügig Gäste des Hauses HNF sein durften, kann man nur von einem sehr gelungenen Ereignis sprechen.
Der „Türke“ wird bis auf weiteres im Eingangsbereich des MuseumsForum zu bewundern sein, eine Videoaufzeichnung gibt den Auftritt des Dieners Anthon und die Schachpartie wieder.

Hier sei auf einen von Harald Balló herausgegebenen Liebhaber-Reprint aus dem Jahr 2002 hingewiesen - Facsimile-Ausgabe - „Über den Schachspieler des Herrn von Kempelen und dessen Nachbildung“ von Freiherr Joseph Friedrich zu Racknitz; das Original stammt aus dem Jahre 1789 und beschreibt recht authentisch die wahrscheinliche Funktionsweise des „Schein-Automaten“.


Vom 3.04. bis 31.05.2004 findet im Schweizerischen Spiel-Museum eine Sonderausstellung zu Kempelens Schachautomat statt - Näheres hierzu finden Sie in diesem Beitrag (doc-Datei), den unser Mitglied Ulrich Schädler freundlicherweise zur Verfügung stellte.

Zur Ergänzung unseres Berichts verweisen wir in der Folge auf einige interessante Artikel (teilweise "online"):

Schachtürke wieder zum Leben erweckt - auf der Website des HNF.
Von Kempelens Schachautomat: Ein Nachbau des Schachtürken in Paderborn (von Ralf Bülow)

Aus der lokalen und überregionalen Presse:

Bei ChessBase Spotlights - André Schulz: Der erste Schachcomputer war keiner

Baron von Kempelens Schach-"Automat" Automaten und Androiden
(Auszug aus E. Wenzel Mracek: Simulatum Corpus. Vom künstlichen zum virtuellen Menschen. Graz 2001) (19-seitiger Artikel - "ladeintensive" Bilder!)

Gerald Giesecke: Der Türke Künstliche Intelligenz des 18. Jahrhunderts.
(ZDF - aspekte) Inklusive ein Interview mit Brigitte Felderer und Ernst Strouhal sowie ein Video zum Türken (mit etwas zu laut geratener Musikuntermalung).

Die ersten Roboter mit zahlreichen Links auch zu v. Kempelen!

Auf zwei weitere Artikel sei lediglich hingewiesen:
Frederic Friedel: Ein Türke spielt Schach, in: Computer-Schach & Spiele 3/1986, S. 14-17
Karsten Bauermeister: Auferstehung des Türken, in: Computer-Schach & Spiele 2/2004, S. 16-17

Abschließend noch einige Hinweise auf Literatur zu Wolfgang von Kempelen und seinem „Türken“ – das schöne Büchlein aus der Reihe „Die bibliophilen Taschenbücher“ mit der Abhandlung von Marion Faber ist leider hoffnungslos vergriffen.

Tom Standage
Der Türke
Die Geschichte des ersten Schachautomaten und seiner abenteuerlichen Reise um die Welt
Campus Frankfurt 2002; ISBN 3-593-36677-0
(in Englisch: The Turk, The Life and Times of the famous eighteenth-century chess-playing machine; Walker, New York, ISBN 0-8027-1391-2)

Der Schachautomat des Baron von Kempelen
(Nachdruck "Racknitz", sowie Edgar Allan Poe und Theodor Heuss)
(mit einem Essay von Marion Faber)
Die bibliophilen Taschenbücher Nr. 367
Harenberg Dortmund 1983; ISBN 3-88379-367-1

Charles Michael Carroll
The Great Chess Automaton
Dover Publications New York, N.Y. 1975 (Originalpublikation)

Gerald M. Levitt
The Turk, Chess Automaton
McFarland & Co. Publishers,
Jefferson N.C. 2000
ISBN 0-7864-07778-6

Aus der Literatur über Schachautomaten (allgemein) seien nur die beiden folgenden Stücke herausgegriffen:

Bradley Ewart
CHESS: Man vs Machine
A.S. Barnes & Comp., Inc.
San Diego • New York /
The Tantivy Press, London 1980
ISBN 0-498-02167-X

Ken Whyld
Fake Automata in Chess
Caistor, 1994
ISBN 1 870036 02 6


Dieser Bericht wurde zusammengestellt von Michael Negele;
einige Ergänzungen und englische Übersetzung von Ralf Binnewirtz.

Zurück