Emil Joseph Diemer, ein Eiferer zwischen Wahn und Wahrheit

Emil Joseph Diemer, Straßburg (1978)
Bild 1: Emil Joseph Diemer, Straßburg (1978)

von Michael Negele (In Auszügen veröffentlicht in KARL 1/2007, S. 28 bis 36)

Große Schachtalente „entpuppen“ sich gemäß den Ausführungen von Oberstudienrat Friedrich Clemens Görschen über „Verwandte beim Schach“, aufzufinden im Schach-Echo 1978 (S. 92), in zwei ganz unterschiedlichen Metamorphosen: Da gibt es die oft zitierten „Wunderkinder“, denen sich die Geheimnisse des Spieles nahezu mühelos und bereitwillig offenbaren, und jene „Fanatiker“, „deren (dämonische) Besessenheit, (einseitige) Begeisterung ... für das Spiel zwar durch eine erlebnishafte Begegnung blitzartig ausgelöst und erweckt wurde, die aber bis zur sich abhebenden Erfolgsspitze einen langen, harten und mitunter dornenreichen Weg der Askese ... zurücklegen mussten ...“

Der scharfsinnige (und wohl ebenso scharfzüngige) Fritz Görschen, durch einen lesenswerten Beitrag von Jürgen Nickel im Schachkalender 2006 (S. 112-118) unlängst gewürdigt, geht aber noch weiter in seiner Differenzierung:

„ ... Nur unter ständiger Bekämpfung der Eitelkeit bzw. Selbstgefälligkeit wird ihm (dem Schachtalent – MN) langsam die Ahnung aufgehen, dass jeder Meister seine Partien nicht bloß als eine mechanische Folge von Zügen ausführt, die den Schachkategorien Zeit, Raum und Kraftentfaltung unterliegen, sondern dass seine Züge ein nach unbewusst vorgegebenem ‚Eigenbau’-Muster erstelltes, inniges Gewebe bilden ...“

Gemessen an diesen gestrengen Maßstäben erscheint mir Emil Joseph Diemer (1908-1990), dessen merkwürdig „kurvenreiche“ Schachlaufbahn erst mit 48 Jahren im Vom ersten Zug an auf Matt!, also dem „Manifest seines Systems“, ihren Kulminationspunkt fand, als wahrer „Marathon-Mann“. Durchaus nicht nur „Schachreformator der Mittelklasse“, wie der pfälzische Meisterspieler und Vollblut-Funktionär Rudolf Schwind seine persönliche Würdigung Diemers in der Europa-Rochade (Nr. 161, Dezember 1977) betitelte. Persönlich bin ich dem siebzigjährigen Diemer erst 1978, also in der vorletzten Phase seines Wirkens, auf denkwürdige Weise am Brett begegnet (Bild 1).

Man darf mich allerdings nicht zu den Adepten der „Diemer-Gemeinde“ zählen - aus meinen kläglichen Experimenten mit dem Blackmar-Diemer-Gambit (BDG) resultierten zumeist drastische Niederlagen, noch gilt es, eine neuerliche Debatte um die „Große Optik“ im Schach anzuzetteln. Ebenso wenig kann hier kein umfassender biographischer Bogen über Diemers „totales Schach“ gespannt werden, dazu verweise ich mit Hochachtung auf die umfängliche Darstellung durch Diemers langjährigen Weggefährten Georg Studier aus dem Jahre 1996.

Eher zielt dieser Beitrag darauf ab, Diemers Schicksal anhand meiner persönlichen Eindrücke und Recherchen aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln schlaglichtartig auszuleuchten und ihm mit einem Augenzwinkern eine „späte Genugtuung“ zukommen zu lassen.

Rasender Schachreporter des Großdeutschen Reiches

Bevor Diemer zum D I E M E R mutierte, sollte man ihn getrost als einen normalen jungen Menschen mit etwas lebhafter Phantasie ansehen. Keineswegs war er mit genialer Begabung gesegnet, allerdings scheint sich recht früh eine ganz große Liebe zum königlichen Spiel entwickelt zu haben. Geboren wurde Emil Joseph (Er selbst schrieb seinen Zweitnamen lange Zeit mit „f“, doch am liebsten „hämmerte“ er EJD unter seine Artikel.) am 15.Mai 1908 im schönen Radolfzell am Bodensee als Erstgeborener des Postbeamten Emil Ludwig Otto Diemer und seiner Frau Sophie, geborene Nuß, die aus Freiburg stammte. Der Junge kränkelte, er war stets ein schwächliches Kind, das der ganzen Zuwendung seiner Mutter bedurfte und diese auch erhielt. Die Familie selbst lebte in materiell gesicherten Verhältnissen, drei Jahre später kam Diemers Schwester Gertrud zur Welt. Kurz vor Ausbruch des ersten Weltkrieges wurde Vater Diemer nach Metz in Lothringen, seit 1871 deutsches Reichsgebiet, versetzt, die friedliche Zeit am Bodensee war jäh vorbei. Als Neunjähriger wurde Emil Joseph aus Sorge der Eltern - die Festung Metz war unter Beschuss der feindlichen Linien geraten - ins erzbischöfliche Gymnasialkonvikt nach Rastatt „verschickt“. Sowohl die Trennung von der geliebten Mutter als auch das Leben unter priesterlicher Aufsicht sollten den Knaben prägen, doch eine Zufallsbegegnung war bestimmend für den gesamten weiteren Lebensweg Diemers: Hier in Rastatt erlernte er von einem älteren Schulkameraden das Schachspiel. Gegen Ende des ersten Weltkrieges siedelten Diemers Eltern nach Baden-Baden über und der Junge kam zurück in seine Familie. Vom Vater erhielt er aufgrund seiner neuen Leidenschaft zum Schach eine Menge alter Schachbücher, die wohl im Familienbesitz waren. Doch will man Diemers eigener zum Teil etwas „wirren“ Darstellung (1985 in einer Artikelserie in der Europa-Rochade) Glauben schenken – und er bietet eigentlich selten Anlass, dies nicht zu tun – half ihm die Beschäftigung mit Lehrbüchern überhaupt nicht weiter. So gibt EJD folgendes preis:

„ ... Ich habe, es wird mir niemand glauben, immer ein außerordentlich schlechtes Gedächtnis gehabt. Genau aus diesem Grunde war ich nur ein mittelmäßiger Schüler, nicht etwa aus mangelndem Fleiß oder mangelndem Interesse, ganz im Gegenteil. ... Aber infolge meines schlechten Gedächtnisses konnte ich z.B. keine lateinischen, griechischen oder französischen Worte behalten. Und dieses schlechte Gedächtnis hat dann sozusagen zwangsläufig das erreicht, was ich in der Schachgeschichte bisher geleistet habe.“

Scheinbar im krassen Widerspruch steht dazu Georg Studiers Verblüffung über Diemers „fotografisches Gedächtnis“, wenn es um Daten und Fakten aus dessen Leben ging.

Doch bekanntlich können sich Gedächtnisstörungen sehr unterschiedlich auswirken, vielleicht galt es für den extrem wissbegierigen Emil Joseph tatsächlich, eine solche „Lernschwäche“ zu überwinden. Sein „Problem“ lässt sich vereinfacht wie folgt beschreiben: Da nicht alle Wahrnehmungen aus der Umwelt im menschlichen Gehirn gespeichert werden können, findet zunächst eine Filterung dieser Reize statt und lediglich ein Teil der Informationen gelangt ins Kurzzeitgedächtnis, wo sie für wenige Minuten verbleiben. Erst durch Wiederholen, bewusstes Lernen oder eine starke emotionale Verknüpfung werden Informationen schließlich ins Langzeitgedächtnis übertragen. Hier ist das biographische Gedächtnis (Kenntnisse der eigenen Lebensgeschichte) sowie allgemeines und fachliches Wissen eines Menschen (z.B. Schul- oder Berufswissen) abgelegt. Falls Diemer unter einem solchem „Übertragungsdefizit“ litt, würden sich daraus seine späteren „Manien“ teilweise ableiten lassen: Sein schier unstillbarer Drang nach „Lesestoff“, das kaum glaubliche Schreibpensum von ungezählten Artikeln und Abertausenden von Briefen, die unentwegte Suche nach „Weltformeln“; letztlich auch die völlige Abwendung vom „Theoriegebäude des Schachs“ hin zum „taktischen Guerillakampf“ auf dem Schachbrett und das hochemotionale Eintreten für sein „System“. Vermutlich machte es für ihn überhaupt keinen Sinn, anders Schach zu spielen als sich die wesentlichen Erkenntnisse „Zug um Zug“ aufs Neue zu erarbeiten und lediglich auf seine Erfahrung am Brett oder in der eigenen Analyse, nicht auf aus Büchern Erlerntes zurückzugreifen. Dies würde sein absolutes Unverständnis für den „wissenschaftlichen Spielertypus“, aber auch manchen kaum glaublichen Fehler in Gewinnstellung erklären, Diemer „vergaß“ offenbar, die gegnerische Chance auf Rettung zu berücksichtigen.

Zurück zu den Fakten: Mit 19 Jahren „baute“ Emil Joseph Diemer am humanistischen Gymnasium in Baden-Baden mit Mühe sein Abitur, zuvor hatte ihn und seine Familie ein schwerer Schicksalsschlag getroffen: Im Januar 1926 verstarb seine von ihm so sehr verehrte Mutter. Unter den Gegebenheiten verspürte Diemer keine rechte Lust zu einem Studium, ebenso waren seine beruflichen Ambitionen nicht sehr hoch gesteckt, heutzutage würde man ihn zur „Null-Bock-Generation“ zählen. Am liebsten spielte er mit seinem Klassenkameraden Heinz Breitling Tag (und Nacht) Schach, doch ab 01. Mai 1927 oblag dem leidenschaftlichen Schachjünger eine neue, eher unliebsame, von Diemer selbst gar als schrecklich bezeichnete Verpflichtung: Wahrscheinlich über verwandtschaftliche Beziehungen hatte er in der katholischen Herderschen Verlagsgesellschaft in Freiburg/Breisgau eine Lehrstelle als Buchhändler erhalten, dort nahm seine weitere Karriere einen schicksalhaften Verlauf – im Schach versteht sich. Natürlich wurde Diemer Mitglied im Traditionsklub von 1887, aber auch in den übrigen vier Schachvereinen Freiburgs sowie der Betriebsschachgruppe des Herder-Verlages. Solch ein „Über-Engagement“ musste zwangsläufig Spannungen mit dem Arbeitgeber und folglich Differenzen mit seinem eher konservativem Elternhaus zur Folge haben. Diemers Vater hatte sich bereits im Jahre 1927 neu verheiratet, die Stiefmutter Helene zeigte zwar durchaus Verständnis für den fast erwachsenen Stiefsohn, spielte sie doch selbst recht gut Schach. Aber mit der Geburt einer weiteren Tochter, Maria-Dagmar, im Jahre 1928 waren im Elternhaus Diemer neue Zeiten angesagt, die wenig Spielraum für einen rebellischen, etwas desorientierten Zwanzigjährigen boten. Im Januar 1931 wurde Diemer dann arbeitslos und kehrte zurück nach Baden-Baden, um sich nahezu ausschließlich mit dem Schachstudium zu beschäftigen. Studiert wurden die Werke von Savielly Tartakower (Bild 2, 1887-1956) und Aaron Nimzowitsch (Bild 3, 1886-1935), jener „Dadaisten“, die sich anschickten, die Korrektheiten der „Tarrasch-Schule“ aufzumischen. Man will es fast nicht glauben, aber es war Die Blockade von 1925, die unserem Emil Joseph besonders imponierte: „ ... Die hier entwickelte Philosophie ist vollständig neu und das Resultat meiner jahrelangen Forschungen ...“, da wird sich Diemer 25 Jahre später ganz ähnlich wie Nimzowitsch äußern. Varianten konnte sich Diemer sowieso kaum merken; als ihm einige der damals recht populären Bücher und Broschüren des Österreichers Franz Gutmayer (Bild 4, 1857-1937) in die Hände fielen, beeindruckte ihn dessen Verherrlichung von Paul Morphy und Napoléon Bonaparte mächtig. Nutze die „Große Optik“ für den „Krieg am Schachbrett“!, das war Gutmayers „Slogan“; ab sofort war somit das Königsgambit für Diemer „Trumpf“. Er selbst meinte später: „ ... wie durch einen Zauberstab wurde meine Begabung zu Tage gefördert, die mir am 15. Mai 1931 im Alter von 23 Jahren bewusst wurde. Innerhalb von 14 Tagen spielte ich meinen Schachfreund (Diemers Dauerpartner war in dieser Zeit A. Janke, zweiter Vorsitzender der SG Baden-Baden.) mit Königsgambit in Grund und Boden. ... Ab diesem Augenblick konnte ich Partien spielen, die in dieser Art noch nie gespielt wurden. Ich begann sozusagen meine Partien wie ein Hellseher zu spielen. Ich sah plötzlich in scheinbar ruhigen Stellungen, in denen meine Gegner nicht im Entferntesten ahnten, dass über ihren Häuptern bereits ‚das Schwert des Damokles schwebte’, ein Matt. Diese Fähigkeit, ‚matt’ zu sehen in Stellungen, wo es keiner meiner Gegner noch nicht einmal ahnte, hat Aljechin immer wieder Sämisch fragen lassen: ‚Woher nur hat der Diemer das?’“

Das „Seherische“ an EJD wird leider Ende der fünfziger Jahre zum pathologischen Prophetenwahn eskalieren, der kauzige „Prophet aus Muggensturm“ (So Jan Hein Donner in de Tijd am 15.02.1958.) landete im Oktober 1964 schließlich im psychiatrischen Landeskrankenhaus Emmendingen. Diemers „Dämmerung“ unter staatlicher Fürsorge im Alters- und Kreispflegeheim in Fußbach sollte bis 1971 anhalten, als er von Uwe Stapelfeldt für dessen SC Umkirch „reanimiert“ wurde.

Im Pflegeheim Fußbach lebte Diemer übrigens bis zu seinem Tod am 10.10.1990, diese Geschichte wäre aber Gegenstand einer weitergehenden Beschäftigung mit dem „Fall Diemer“ unter dem Schwerpunkt „Schach und Geisteskrankheiten“. Dazu haben sich aber schon kompetentere Autoritäten wie weiland „Dr. med.“ Siegbert Tarrasch geäußert, so im Berliner Lokalanzeiger 1906, später herausgegeben von Diemers Weggefährten aus Lindauer Zeiten, dem Kölner Schachonkel Wolfgang Kübel.

Zurück zu Gutmayers Einfluß auf den jungen Diemer: Dessen derbe, oft militaristisch geprägte Sprache machte sich Diemer erst ganz spät in seinen Artikeln zu eigen, vor allem die Blackmar-Gemeinde strotzte vor allzu bildhaften Darstellungen wie „Der Teufel rast über das Brett, der Furor Teutonicus tobt.“ Nachdem Diemers psychische Erkrankung offen ausgebrochen war, wurden seine schriftlichen Äußerungen zunehmend absonderlich und für den Außenstehenden kaum mehr nachvollziehbar. Während Gutmayer jedoch in seinen „Werken“ unverhohlenen Judenhass auslebte, klingt dies beim streng katholischen Diemer nur andeutungsweise als „jüdische Erbschuld“ am Tode Jesus an. Somit mag es objektiv verwundern, dass nicht nur seine Widersacher, sondern auch „neutrale“ Betrachter Diemer ohne Not in die Nähe des antisemitischen Gedankengutes des Innsbruckers rückten. Um Gutmayers Lebensweg (und Denkart) kurz darzustellen, sei aus dessen unsäglichem Werk Das unbedingte Torpedo im Schachkrieg (Selbstverlag Innsbruck-Mühlau 1916, S. 86-87) zitiert:

„ ... Aber interessiert sich jemand für mein Leben überhaupt? – Höchstens als Schächer! Auf der Schule habe ich nicht viel gelernt, Realschule, Handelsschule. ... Aber mein Privatfleiß war einfach grandios: Große Männer, große Sprachen. Hier flossen meine reichen Quellen, hier lag mein Glück. Meine schwachen, schlechten Augen hielten mich zurück vom Polytechnikum, trieben mich zu – der blödsinnigen Handelsakademie. Natürlich ging ich fast nie hinein. – Welche Perspektive fürs Leben! In München kam ich ans Tageslicht – in einem Announcengeschäft. Ich blieb dem Verlagsfach treu; es hat interessante Seiten. Ich trank alle seine Möglichkeiten aus: Expedient, Reisender, Redakteur, Administrator – Verleger! Alles war ich – nur nicht glücklich. Bevor ich Bureausklave wurde, saß ich einmal ganz trübselig in einer Räuberhöhle – will sagen Stellungsagentur. Neben mir ein Leidensgenosse. Ich: Was tun Sie den ganzen Tag! – Er: Schachspielen. – Ich: Wo? – Er: Im Café Perzel. - Ich: Lernen Sie mir ́s – meine erste Gewinnpartie – ein Kälberstich! Von da ab wuchs mir der Kamm. Mein Moralisches schnellte 10000 Fuß hoch empor. Ich gewann Selbstvertrauen und den harten Glauben an mich – übrigens meine Grundtugend und die Hauptsache im Schach. ... Dann kamen Lebenskämpfe jeder Art: Kränklichkeit, stete Kopfschmerzen, schlechte Stellen, alle Miseren des armseligen Lebens. Das Schach – meine Erholung!“

Manches Zitat könnte 1:1 für Diemers Lebenslauf übernommen werden.

Richard Réti
Bild 5: Richard Réti

Immerhin „nervte“ das Gutmayersche Literatur-Unwesen (Oder dessen scheinbare Erfolge – zumindest können diese nicht pekuniärer Natur gewesen sein, denn Gutmayer starb völlig mittellos im Wiener Versorgungsheim Lainz.) die arrivierten Meister; angeblich sah sich Richard Réti (Bild 5, 1889-1929) zur Herausgabe seiner Neuen Ideen im Schachspiel (Rikola Verlag, Wien 1922, dort Kapitel II Franz Gutmayer, S. 14f) als Kontrapunkt zum „autorisierten Apostel der älteren Meister“ motiviert. Für Réti war Gutmayer „... keine Persönlichkeit, aber ... ein Gattungsbegriff: der Dutzendschachspieler, den man überall trifft, der für Morphy schwärmt, nachdem er tot ist, und ihm trockenes Spiel vorwarf, als er lebte, der überzeugt ist, dass die Meister vielleicht besser spielen als er, er aber die schöneren Ideen hat. ...“

Weiteres zu Franz Gutmayer mag ich mir ersparen, empfohlen sei die umfängliche Charakterisierung von Michael Ehn und Ernst Strouhal über die Luftmenschen (Sonderzahl Verlagsgesellschaft 1998, S. 45 f); in ihrer Schachspalte haben die beiden Wiener unter dem Titel Kann man Diemer lieben? (Der Standard, Wien 13.01.1991) auf dessen nationalsozialistische Vergangenheit abgehoben.

Dr. Michel Roos und Emil Joseph Diemer, Bad Mondorf (1958)
Bild 6: Dr. Michel Roos und Emil Joseph Diemer, Bad Mondorf (1958)

Diese begann schon vor der „Machtergreifung“, am 24.September 1931 trat Emil Joseph Diemer der NSDAP bei und bemühte sich (letztlich erfolglos), Mitglied der SA zu werden. Unklar blieb selbst für Georg Studier, dessen Ausführungen ich hier stark verkürzt wiedergebe, ob ein weitläufiger Verwandter, der mächtige Gauleiter Badens, Robert Wagner, ein „alter Kämpfer seit 1923“, bei Diemers Hinwendung zur Nazi-Demagogie eine Rolle spielte. Zumindest sein dem katholischen Zentrum zugeneigter Vater war von diesem Entschluss absolut nicht begeistert, er wies dem Sohn kurzerhand die Tür des Elternhauses. Mit fanatischem Eifer setzte sich Diemer, fasziniert von Hitlers „Mein Kampf“, in den nächsten Jahren an der „Basis“ für die Sache der Partei ein, in erster Linie durch den Vertrieb von NS-Schriften. Er hatte dadurch ein geregeltes Einkommen und lebte nach eigener Aussage „bis Kriegsende herrlich und in Freuden“. Ganz gelöst hat sich Diemer vom nationalsozialistischen Gedankengut nie, wobei ihm offener Antisemitismus kaum vorzuhalten ist und er ohne Einschränkung mit den jüdischen Schachspielern Umgang pflegte. Insbesondere Aaron Nimzowitsch, den er Mitte 1934 während des WM-Kampfes Aljechin-Bogoljubow persönlich kennen lernte, brachte EJD offene Verehrung entgegen. Zu einem ähnlichen Schluss kommt der französische Meisterspieler Dr. Michel Roos (Bild 6, Bad Mondorf 1958, rechts neben Diemer) aus Straßburg, der etliche Jahre mit Emil Joseph Diemer in Kontakt stand, in seinem Nachwort zur dritten Auflage von Dany Sénéchauds Missionnaire des Échecs acrobatiques (S. 242).

Herbert Kraft
Bild 7: Herbert Kraft

Emil Joseph Diemer gelangte wohl zur Einsicht, dass sich seine Leidenschaft für das Schach mit der Tätigkeit für die NSDAP gut in Einklang bringen ließ und er, der bislang keine nennenswerten Turniererfolge erringen konnte, formulierte mit beeindruckendem Optimismus: „Ende 1931 entschloss ich mich, Schachmeister zu werden“. Doch bis zum offiziellen Titel „Meister“ war ein weiter Weg, zumindest in Deutschland blieb solches Diemer bis ans Lebensende versagt. Immerhin wurde er im September 1933 in Heidelberg nachweislich badischer Blitzmeister im B-Turnier (Deutsche Schachblätter 1933, S. 294), was ihn laut Studier mit großem Stolz erfüllte.

Da das Schachspiel zum Volks- und Kampfspiel Nr. 1 der Deutschen erklärt worden war, schnellte die Zahl der organisierte Schachspieler rasch in die Höhe und Diemer fand „Brüder im Geiste“. Vom neuen Vorsitzenden des badischen Schachverbandes, dem Ministerialrat im Kulturministerium, Prof. Herbert Kraft (Bild 7), mit dem Diemer in engem Kontakt stand, war die Notwendigkeit „das Schach in alle Volksteile hineinzutragen und in den Dienst von Staat und Volksgemeinschaft zu stellen und damit zur Überbrückung der Klassengegensätze beizutragen“ ausgerufen worden.

„Breitenarbeit solle das nächste Ziel sein, nicht Heranzucht von Spitzenspielern,“ so sahen das auch der pfälzische „Propaganda-Minister“, der Wormser Frauenarzt Dr. Ernst Bachl (Bild 8, 1895-1982), der Diemer zeitlebens freundschaftlich verbunden blieb, wie der Zahnarzt Dr. Hermann Christian Meyer (Bild 9, 1907-19??) aus Stadtprozelten (Main). Zu Diemers „Spezis“ gehörte ebenfalls der „Schachphilosoph“ und Schriftsteller Alfred Pfrang aus München, seines Zeichens Leiter der Schachlehrkurse an der NS-Volksbildungsstätte München, nach dem Krieg bis 1952 als Jugendleiter des bayerischen Schachbundes aktiv. Mit Efim Bogoljubow (Bild 10, 1889-1952) verband Diemer aufgrund der regelmäßigen Besuche des gutmütigen Großmeisters in Baden-Baden eine recht enge Freundschaft, im März 1934 weilte Diemer in Triberg, um das Manuskript von Bogoljubows Schachschule zu redigieren und mit der Maschine ins Reine zu schreiben. Dann begleitet Emil Joseph Diemer als „junger Schachkorrespondent“ gemeinsam mit solchen Größen wie Aaron Nimzowitsch, Hans Kmoch, Hans Müller und Jacques Mieses als offizieller Pressevertreter den zweiten Wettkampf Aljechin-Bogoljubow (Bild 11), von dem er unter anderem für Josef Benzinger im „Völkischen Beobachter“ und in anderen NS-Blättern, aber auch für die Tageszeitungen berichtete. Wenige Wochen danach besuchte er als Berichterstatter erstmalig ein ausländisches Schachturnier, Diemer erlebte in Zürich das Comeback von Emanuel Lasker (Bild 12, 1868-1941).

Alexander Aljechin, Zürich (1934)
Bild 13: Alexander Aljechin, Zürich (1934)

Die Auszeichnung, im Kreise der Meister förmlich aufs „Brett greifen zu können“, schien Diemers Engagement „Flügel“ zu verleihen. In den Jahren bis zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges eilte er, soweit es ihm seine bescheidenen finanziellen Mittel erlaubten, von Turnier zu Turnier. Wie er mit seinem Idol Alexander Aljechin (Bild 13, 1892-1946) trotz aller äußeren Widersprüche mitfieberte (Die Alkoholsucht Aljechins war dem asketischen, sich aller weltlichen Freuden - außer süßen Schleckereien - entsagenden Diemer ein Gräuel. Hingegen schwärmt er noch 1958 in einer „Liebeserklärung an Holland“: Noch habe ich den Geschmack der „Weltmeister-Torte“ auf derZunge, welche Amsterdams Bäckerinnung Euwe spendierte und mit deren erstem Stück er mich in seiner Wohnung bei der Gratulation am anderen Morgen bewirtete!), lässt sich dem Vorwort seines Büchleins über den AVRO-Achtkampf 1938 im Telegrammstil entnehmen:

„ ... Meine Tätigkeit als Schachreporter begann ich an Ostern 1934 in meiner Heimatstadt Baden-Baden. ... Im Herbst 1935 war ich dann Zeuge, wie Euwe nach sensationellem Kampfe Aljechin den Weltmeistertitel nach Holland entführte! ... Es kam 1936, und die Schachwelt verfolgte mit mir heissen Herzens die verzweifelten Bemühungen des Exweltmeisters Aljechin, wieder neue Kräfte für seinen Revanchematch gegen Euwe zu sammeln. Bad Nauheim und Dresden waren die Stationen seiner wenig überzeugenden Siege ...“

Von Bad Nauheim weiß Diemer eine besondere Episode zu berichten:

„ ... 1936 fand die erste große Begegnung zwischen Keres und Aljechin in Bad Nauheim statt. Bei Abbruch dieser Partie hatte Keres eine Qualität mehr. Dass diese Partie am anderen Tag kampflos remis gegeben wurde, konnte ich nicht vorausahnen, sodass ich meinen Bericht ‚Die Jugend siegt über das Alter’ an die Presse gab. Als die Bescherung zu Tage trat, sagte der Schiedsrichter: ‚Um Gottes Willen, was haben Sie angestellt?!’ Aljechin bekam im Pressezimmer einen Wutanfall, als er meinen Bericht sah, und drohte sogar mit dem Abbruch des Turniers. Aber mir gegenüber hat er darüber nie ein Wort verloren. So außerordentlich hat er mich damals schon geschätzt und bewundert.“

"Nazi Schacholympiade", München (1936)
Bild 14: "Nazi Schacholympiade", München (1936)

Natürlich war Diemer im Sommer 1936 in München, um für sechs Wochen vom Nazi-Schacholympia (in Konkurrenz zum Großmeisterturnier in Nottingham) als „systematische Ertüchtigung des Geistes durch spielerische Betätigung in sportlicher Form“ (Zitat aus dem Vorwort zum Schach-Kalender 1937 des Landesverbandes Bayern e.V. im Großdeutschen Schachbund.) zu berichten. Eine kleine Broschüre mit 189 Kurzpartien dieser Mammutveranstaltung (Bild 14) stellte er anschließend mit großem Fleiß für die „Ungarische Schachwelt“ zusammen. Nach mehreren im Selbstverlag vertriebenen Partiensammlungen (Bad Nauheim, Dresden, Swinemünde, Podĕbrady; wohl alle in 1936 erschienen.) war dies sein erster bleibender Beitrag zur Schachliteratur mit dem eindringlichen Titel „Olympische Blitzsiege“. Diemers Sprache ist wohlgesetzt, doch „Ich-lastig“, so heißt es im Vorwort:

„ ... Filmartig rollen 189 Szenen eines großen Dramas an unseren Augen vorüber, alle gleichsam unter dem unerbittlichen Gesetz antiker Tragödien stehend. SCHULD UND SÜHNE. Ich glaube, dass nach dem Studium dieser 189 Partien mancher Schachspieler zu der zwangsläufigen Feststellung kommt. Jetzt ist mir nichts Menschliches mehr fremd, mit den ‚64 Feldern’, die für mich die Welt bedeuten!“

Diese letzte Aussage traf auf EJD seit 1932 unbedingt zu, dennoch blieben seine eigenen Spielerfolge weiterhin relativ bescheiden. Immerhin hatte er im August 1934 in Karlsruhe die Vorberechtigung für das nächstjährige Meisterschaftsturnier (Deutsche Schachblätter 1934, S. 287) errungen, auch in der Pfalz Ende September 1934 beinahe den Aufstieg ins Meister-Turnier geschafft (Deutsche Schachblätter 1933, S. 312).

Das Blackmar-Gambit hatte Diemer damals nur vereinzelt angewendet, die „fixe Idee der schachlichen Kampfmaschine“ war einfach noch nicht ausgereift. Immerhin fand sich folgende Partie in der Deutschen Schachzeitung 1935 auf S.375 mit Anmerkungen von Ernst (sic!!) Josef (sic) Diemer. Sie stammt wohl aus dem Wettkampf mit einem niederländischen Schachfreund, der in Amsterdam während des Weltmeisterschaftskampfes 1935 gespielt wurde. Merkwürdigerweise wird die Partie in keinem der mir bekannten BDG-Werke erwähnt, mag sein, dass sie nicht „zur Historie“ passt!?

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1935
Paul Keres und Max Euwe, Zandvoort (1936)
Bild 15: Paul Keres und Max Euwe, Zandvoort (1936)

Bis ins Jahr 1937 war Diemer als Schachjournalist und Turnierspieler unentwegt auch im europäischen Ausland auf Achse, so beteiligte sich jeweils zum Jahreswechsel 1934, 1935 und 1936 in Hastings an den Major A Sections. Beim zweiten und dritten Versuch gewann er diese Gruppen, zuletzt mit sensationellen 8,5 Punkten aus 9 Partien. Dies wurde, laut Diemer, von Aljechin, seinem „Claqueur“, bei der Siegerehrung begeistert beklatscht. Beide Siege brachten jeweils £5 Preisgeld für Diemers spärlich gefüllte Reisekasse, dennoch war seine Enttäuschung über die Engländer groß: Die eigentlich zu erwartende Einladung zum Premier Reserves blieb jeweils aus. Vermutlich lag die Ursache bereits in der verschlechterten politischen Wetterlage zwischen Großbritannien und Großdeutschland, die einen NS-Parteigenossen nur bedingt im Teilnehmerfeld tolerierte. Kurz vor dem bereits erwähnten Schacholympia in München hatte Emil Joseph Diemer im tschechischen Bad Podĕbrady einen weiteren schönen Erfolg verbucht; zwar verpasste er in der fünften Gruppe knapp die Qualifikation zur Siegergruppe des Hauptturniers, belegte aber im nachfolgenden Trostturnier hinter Dr. Florián den zweiten Platz. Im August 1936 war Diemer im holländischen Badeort Zandvoort und verfolgte, wie Reuben Fine dort erneut (nach Hastings) gegenüber Paul Keres und Max Euwe (Bild 15) seine Ansprüche auf Zugehörigkeit zur Weltspitze unterstrich, danach war unser rasender Reporter in Bad Elster, Wien (Trebitsch-Turnier) und Eger präsent. Direkt nach seinem großen Erfolg in Hastings spielte Emil Joseph Diemer im Januar 1937 in Brüssel einen doppelrundigen Vierkampf mit den Meistern O’Kelly (Bild 16, die Aufnahme ist aus dem Jahr 1959), Feigin und Devos; zu seiner Ernüchterung erwiesen sich solche Gegner ihm als weiterhin klar überlegen, mit 1,5/6 wurde er Letzter.

Emil Joseph Diemer und O’Kelly (1959)
Bild 16: Emil Joseph Diemer und O’Kelly (1959)

Das Turnier in Ostende 1937 (April 1937) dokumentierte Diemer als Augenzeuge nicht nur in Zeitungsberichten: Sein zweites Turnierbüchlein erschien in der „Ungarischen Schachwelt“ in Kecskemét und war in besonderer Weise dem Schweizer Meister Henry Grob – für Diemer bereits Großmeister, was die Redaktion zu einem skeptischen „Na, na!!“ ermunterte – und dessen überraschendem Erfolg gewidmet. Es ist schon verblüffend, in welch durchaus sachlichem Plauderton Diemer im Vorwort den Turnierverlauf aufzeichnete und die einzelnen Exponenten charakterisierte; drastisch unterschiedlich lesen sich später seine (absonderlichen) Pamphlete. Doch in manchen Partiekommentaren deutete sich das „Erwachen“ schon an, ein „stumpfsinniges“ Kurzremis zwischen Dyner und Koltanowski „geißelte“ EJD missbilligend mit: „Remis! So etwas müsste eigentlich polizeilich verboten werden.“ Oder man findet: „Remis! Kampf? Keine Spur!!, wieder waren zwei Belgier, Dunkelblum und Koltanowski, die „Übeltäter“. Hingegen erfuhren Landau und Tartakower ein Lob: „Eine solche bluterfüllte ‚Kampf-Remise’ lässt man sich gern gefallen“ und 1.e4 c5 2.Sf3 d6 3. b4!?! (Die spätere Seuche der Interpunktionshäufung ergreift bereits Besitz.) von Keres (gegen Dyner) wird mit „In der Hand eines Keres ist ein solches Gambit immer korrekt!“ goutiert.

Oskar Naegeli (1934)
Bild 17: Oskar Naegeli (1934)

Nach der Deutschen Meisterschaft in Bad Oeynhausen, von der Diemer als Korrespondent berichtete, setzte ein schlimmes Missgeschick ihn für drei Monate außer Gefecht: Er stürzte unglücklich im Postamt Karlsruhe und brach sich – wie sich später in Villingen beim XVI. Badischen Schachkongress herausstellt – den Arm. Somit konnte Diemer das unerwartete Comeback Alexander Aljechins im WM-Rückkampf gegen Max Euwe in den Niederlande nicht live verfolgen, er „gastierte“ ein halbes Jahr in Villingen, stritt sich mit der Reichspost um Schadensersatz aufgrund seines Unfalls und spielte Wettkämpfe mit lokalen Größen. Vielleicht mag freie Kost und Logis dabei eine Rolle gespielt haben, denn Diemer fristete kurz vor dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges ein karges Dasein am Rande des Existenzminimums. Seine journalistischen Dienste bot er, sehr zum Verdruss seiner Fachkollegen, weit unter Preis an, auf dieses „Preis-Dumping“ ging sogar Jan Hein Donner in seiner Charakteristik Diemers ein. Und trotz permanenter Spielpraxis blieb ein durchschlagener Turniererfolg aus, in Einladungsveranstaltungen wie Weidenau 1937, Krefeld bzw. Mönchengladbach 1938 belegte er bescheidene Plätze und überzeugte lediglich durch seinen großen Einsatz. Bei der XVII. Badischen Meisterschaft 1938 in Karlsruhe konnte Diemer endlich in der Meisterklasse starten, für seine Partie gegen den bekannten Schweizer Meister und Schach-Mäzen Prof. Oskar Naegeli (Bild 17, 1885-1959), der in Freiburg/Breisgau für das internationale Rote Kreuz tätig war, erhielt er den ausgelobten Schönheitspreis.

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1938

Im Jahr 1939 war Diemer wenig reise- und spielaktiv, lediglich im Bad Harzburger Gästeturnier befand er sich im Ende Juni wohl unter den Teilnehmern. Offenbar eine Folge der veränderten politischen Lage, die seine Möglichkeiten innerhalb der von den Berliner und norddeutschen Funktionären bestimmten GSB-Organisation auf die eines zum Außenseiter gestempelten „Mitläufers“ schmälerte. Der „Anschluss“ Österreichs hatte die journalistische Palette im großdeutschen Schach um Albert Becker, Hans Kmoch und Hans Müller erweitert, Diemers Kontakte zu einigen NS-Oberen waren nicht mehr hilfreich und seine gute Bekanntschaft mit „Nicht-Deutschen-Meistern“ wie Aljechin, Bogoljubow oder Euwe mag kurz vor Ausbruch des zweiten Weltkriegs eher „hinderlich“ gewesen sein.

Im September 1939 meldete sich Diemer, vom abgebrochenen XVIII. Badischen Meisterturnier aus Waldkirch kommend, unverzüglich als „ungedienter“ Kriegsfreiwilliger in Baden-Baden. Der 31jährige war nicht zu den Waffen gerufen worden und erhielt zunächst in Rastatt eine militärische Grundausbildung. Doch einem Einsatz an der Westfront war der hoch aufgeschossene, gut 1,90 m große „Träumer“, dürr und klapprig wie er war, nicht gewachsen. Krank landete Diemer im Lazarett in Bad Liebenzell und wurde schließlich als „untauglich“ aus der Wehrmacht entlassen. Ab 1940 ging er als Betriebsprüfer des Finanzamtes Baden-Baden erstmalig seit fast zehn Jahren wieder einer geregelten Arbeit nach, zu Besuchen der trotz (oder gerade wegen der Kriegssituation) verstärkt stattfindenden Nazi-Schachturniere kam es bis zum Europaturnier 1942 in München nicht.

Vermutlich aus den bereits genannten Gründen neigte sich seine journalistische Tätigkeit vorläufig dem Ende zu, regelmäßig schrieb Diemer noch für die Magyar Sakkvilag längere eigenständige Beiträge, ansonsten war er zur Inaktivität, abgesehen von kleinen „privaten“ Wettkämpfen und zahlreichen Fernpartien, verdammt. Ab 1934 hatte sich EJD regelmäßig an den Fernturnieren der Deutschen Schachzeitung und der Deutschen Schachblätter beteiligt, dies zeitigte jedoch nur ganz bescheidene Resultate. (So als Drittletzter im V. Internationalen Fernturnier der DSZ, Tabelle dort 1937, S.97.) Offenbar verlor er das Interesse an seinen Partien, sobald die Stellungen ihm nicht mehr aussichtsreich erschienen. Bekannt wurden kurze Verlustpartien im Königsgambit gegen Paul Keres (Bild 18; 1935/36 aus dem erwähnten Turnier, Diemer hatte Weiß.) und Klaus Junge (Bild 19; 1942/43, Diemer hatte Schwarz.).

Jedoch sorgte sein erster (und letzter) großer Artikel in der Deutschen Schachzeitung vom Januar 1943 (S. 3 ff) für einen „Tumult“ und verschaffte Diemer „Feinde fürs Lebens“. Nachdem er im Juli-Heft 1941 der Magyar Sakkvilag (S. 119 ff) einen siebenseitigen, sprachlich ausgewogenen Lobgesang über den „Siegeszug des 17-jährigen Klaus Junge (Hamburg)“ in Bad Elster angestimmt hatte, sah sich EJD zu einer geharnischten „Gardinenpredigt“ in Richtung des deutschen Hoffnungsträgers unter dem Titel „Schach-Kampf und Kunst“ genötigt. Diemer verfiel dabei in eine Diktion, die man zuvor nur bei einem solchen Erz-Nazi wie Theodor Gerbec oder dem eingangs charakterisierten Franz Gutmayer gelesen hatte. Es verwundert (oder vielleicht doch nicht?!), dass der scheidende Redakteur Heinrich Ranneforth diesen Beitrag des „von allen guten Geistern“ verlassenen Diemer in dieser Form zum Abdruck brachte: „... Klaus Junge spielt einen ‚vergreistenStil’!“ Und die Schuld an dieser verhängnisvollen Entwicklung „tragen schlechte Beispiele und Vorbilder der Vergangenheit und Gegenwart, - und mangelnde Erziehung zum ‚Kampfschach’“.

Nun hielt Diemer nicht hinterm Berg, dass es „das betrübliche Manko der heutigen Meistergeneration (ist), dass sie sich dauernd auf ‚fremdes Wissen’ verlässt, allzu autoritätsgläubig ist.“ Und abschließend: „Ich sehe in dieser Angst vor der Verantwortung, vor dem Risiko, vor der ‚großen Tat’, vor dem ‚Gefährlich-Leben’, den letzten Ausdruck jüdischen Einflusses auf unsere Schachjugend. Warum sollte es auch im Schach anders sein, diesem Symbol des menschlichen Lebens, dieser Parallelerscheinung zu allen menschlichen Auseinandersetzungen auf kulturellem und politischem Gebiete, als auf allen anderen Gebieten des heutigen menschlichen Daseins? Hie Kampf, hie ‚Maginotgeist’! ... Unser ‚Königliches Spiel’ ist in jeder Beziehung von unbestechlicher Gerechtigkeit, und daher war es ganz in Ordnung, dass er (Klaus Junge – MN) das Opfer eines echt Aljechin’schen Geniefunkens wurde.“

Spätestens die berüchtigte Serie von Aljechin-Artikeln in der Deutschen Schachzeitung (April-Juni1941) hatte EJD den Blickwinkel seines Idols auf „Jüdisches und arisches Schach“ eröffnet, doch schon in der Deutschen Schachzeitung 1937 (S. 129 ff) hatte sich jener Ing. Theodor Gerbec (Wien) unter der Überschrift „Ist das noch Fortschritt?“ ausgelassen über den „Stil, der jede eigene Initiative vermissen lässt, nur auf den Fehler des Gegners wartet und nur mit den Nerven und dem Sitzfleisch den Gegner bekämpft, hatte seinen hervorstechendsten Vertreter in S. Flohr. ... nicht durch Kampf, sondern nur durch Geduld und eine geradezu unsympathische Lauertaktik plötzlich irgendwo ein kleiner Vorteil auftaucht, der dann durch weiteres ‚Drücken’ soweit verdichtet wurde, dass der Gegner endlich die Waffen streckt. ...“

Dr. Eduard Dyckhoff
Bild 20: Dr. Eduard Dyckhoff

Mit der Kommentierung der Partie Aljechin gegen Klaus Junge aus dem Meisterturnier im Generalgouvernement, gespielt in Lublin im Oktober 1942, verband die Diemer auch die Frage: „Haben wir ein Kunstwerk vor uns?“ und hält sich mit seiner Meinung nicht zurück. „ ... Meines Erachtens sollte man bei Betrachtung und Beurteilung einer Schachpartie mehr daran denken, dass sie das Ergebnis zweier sich‚ bis aufs Messer’ bekämpfenden Persönlichkeiten ist (Plan und Gegenplan), dass gerade im Schach der Kampf der Vater aller Dinge ist. ... Mit blutleerer ‚objektiver Wissenschaftlichkeit’ ist noch nie etwas Großes erreicht worden! Und noch etwas anderes: Es fehlen die großen Vorbilder! Nicht, dass wir sie nicht hätten! Jeder kennt und bewundert einen Aljechin, einen Keres, einen Richter. Aber wo ist der Versuch, diese Meister zu ‚popularisieren’? Keiner dieser Meister ist für uns ein ‚Begriff’! was fehlt, ist ein neuer Gutmayer. Was dieser für Morphy tat (sein trotz allen Wenn und Aber unsterblicher Verdienst), muß, und zwar so bald wie möglich, für Aljechin, Keres, Richter getan werden. Nur wenn ... die Helden unserer Schachjugend werden, dann werden ‚deutsches Schach’ und ‚Kampfschach’ identische Begriffe werden!“

Diemers „Rundumschlag“ rief in der letzten eigenständigen Ausgabe der Deutschen Schachblätter (Nr. 5/6 vom 1. März 1943, S. 35 ff) heftige Gegenreaktionen hervor, so titulierte Dr. Eduard Dyckhoff (Bild 20, 1880-1949) ihn als „der neue Gutmayer“ und konstatierte abschließend: „Im ganzen Diemerschen Aufsatz finde ich eigentlich nur ein einziges richtiges Wort, nämlich, dass das Thema ‚unerquicklich’ sei. Am unerquicklichsten aber dürfte wohl allen Lesern die Diemersche ‚Vorlesung’ gewesen sein!“ Auch Ehrhardt Post (Bild 21, 1881-1947) als Bundesgeschäftsführer des GSB wetterte gewaltig gegen „das Fegefeuer einer sensationell aufbauschenden öffentlichen Kritik“ und nimmt nicht nur den angegriffenen jungen Meister, sondern die gesamte Organisation gegen Diemers Vorwürfe in Schutz:

Ehrhardt Post (1942)
Bild 21: Ehrhardt Post (1942)

„ ... Denn die das zulässige Maß weit überschreitende Kritik richtet sich nicht nur gegen Klaus Junge, sondern sie donnert zugleich auch gegen den übrigen deutschen Nachwuchs und wirft schließlich der Bundesleitung vor, für die Erziehung der Jugend zum Kampfschach nicht genügend getan zu haben. Der Begriff ‚deutsches Kampfschach’ ist vom Großdeutschen Schachbund bereits in seinen allerersten Aufrufen geprägt und verwendet worden. ...Freilich ist die Auffassung über Kampfschach nicht einheitlich. Ich verstehe darunter nicht eine Verdrängung des Positions- zugunsten des Kombinationsspiels und halte nicht etwa wilde Angriffsspieler für vorbildliche Vertreter des Kampfschachs. ... Der Kampf kann dabei sowohl selbst gesucht als auch vom Gegner angenommen werden, er kann in gleicher Weise im Angriff wie in der Verteidigung liegen. Er gehört oft weniger Mut dazu, ein Opfer anzubieten als es anzunehmen. Immer aber stehen eine grundsätzliche Ablehnung aller Verwicklungen und ein stumpfes Sicherheitsspiel außerhalb des Kampfschachs. ...“

Alfred Brinckmann (1951)
Bild 22: Alfred Brinckmann (1951)

Alfred Brinckmann (Bild 22, 1891-1967), vielleicht eine der unrühmlichsten Randfiguren des Großdeutschen Schachs in der Zeit von 1933 bis 1945, nahm als Obmann des Meisterausschusses ebenfalls Stellung:

„Der Artikel von E.J. Diemer enthält im wesentlichen einen Angriff auf die Spielweise von Klaus Junge. Der deutsche Meisterausschuss erklärt die Ausführungen nach Form und Inhalt für unqualifiziert und hält es für seine Pflicht, den seit Gedenken erfolgreichsten deutschen Jungmeister gegen derartige Ausfälle nachdrücklich in Schutz zu nehmen. Vor allem lehnt auch der Meisterausschuss die von Diemer vertretene naive Auffassung vom ‚Kampfschach’ völlig ab. Der anspruchsvolle ‚Ich’-Stil, in dem der Diemersche Artikel abgefasst ist, erweckt besonders peinliches Empfinden.“

Was „Kampfschach“ zu bedeuten hatte, war von Brinckmann schon 1940 in den Deutschen Schachblättern (S. 34 f) unter der Überschrift „Gebot der Stunde“ dargelegt worden:

„ ... Wir haben in Deutschland im bewussten und scharfen Gegensatz zu allen intellektualistischen Standpunkten den Begriff ‚Kampfschach’ geprägt, und unsere Zeitschrift hat demgemäß, wo immer sich Gelegenheit dazu bot, seit Jahr und Tag die kämpferische Werte des Schachs dargelegt und eingehämmert.“

Und noch „eindrucksvoller“ sind Brinckmanns Darlegungen auf S. 17 der Europa-Schach-Rundschau Band 1 über die Europameisterschaft München 1942; jener raren Publikation, die der soeben gegründete Europaschachbund im zusammenbrechenden „Reich“ noch zustande brachte:

„... des Weltmeisters (gemeint ist der Turniersieger Aljechin – MN) Spiel ist zu allen Zeiten seiner Laufbahn eine einzige Rechtfertigung des Kampfschachs. Längst hat sich dieses Wort durchgesetzt, es ist überall begriffen worden, dass es einer neuen und kräftigen Schwurformel bedurfte, um der rational-mechanistischen und durchaus als Verfallserscheinung zu wertenden Schachauffassung der Tarrasch-Ära und deren Epigonen entgegenzuwirken. ... Der Schachkampf geht nicht nur auf unseren kühl rechnenden Verstand, sondern auch auf unser Herz, unsern Willen und lässt darob das Blut lebendiger durch die Adern rollen. Allerdings – kämpfen ist nicht gleichbedeutend mit angreifen und es muss vor allem mit Entschiedenheit gegen die naive Auffassung Front gemacht werden, nach der der Schlagetot-Stil der allein gerechtfertigte sein soll, und uns dahin belehrt, dass nur derjenige des Heiles gewiss sei, der fleißig Königsgambit spielt oder unter selbstherrlicher Nichtachtung jeder Erfahrung möglichst ausgefallene, verschrobene Eröffnungen wählt. Das überlassen wir gern den Don Quichotes im Reich der 64 Felder. ...“

Im Hinblick auf die weitere Entwicklung will man fast an ein „Déja-vu“ glauben, diese Zeilen scheinen förmlich auf Emil Joseph Diemer gemünzt. Nicht unwahrscheinlich, dass er Brinckmann beim Münchener Turnier 1942 „in die Quere“ geriet, denn Diemer war im Zuge der General-Mobilisierung zum zweiten Mal eingezogen, aber als „front-untauglich“ eben in der bayerischen Hauptstadt in der Etappe beim Luftwaffen-Nachrichtendienst gelandet. In den Kriegswirren des Frühjahres 1943 blieb eine weitere Eskalation der Auseinandersetzung aus, alle deutschen Schachzeitungen wurden unter der Führung von Ludwig Rellstab in der Deutschen Schachzeitung vereinigt, ein EJD kam dort nicht mehr zu Wort.

Berufsverbot für einen Schachprofi

Das weitere Schicksal Diemers in den Jahren 1943 bis 1946 ist aus Georg Studiers Aufzeichnungen nicht eindeutig ableitbar, nach einem langen Aufenthalt in der Lungenheilanstalt Bad Kohlgrub, um dort eine Tuberkulose auszukurieren, kehrte Diemer, noch immer in Wehrmachtsuniform, nach Baden-Baden zurück. Seine lokalen Schachspalten führte er weiter und spielte Fernpartien sowie private Wettkämpfe, in denen er sich immer mehr dem Blackmar-Gambit zuwendete. Mit dem Zusammenbruch des Dritten Reiches stand Emil Joseph Diemer (wie so viele) vor dem materiellen Nichts, zudem schien er zu befürchten, dass ihm die Parteizugehörigkeit negativ von den französischen Besatzern ausgelegt würde. Bei Nacht und Nebel floh er aus Baden-Baden in den Schwarzwald, sicherlich ist diese unangemessene Fluchtreaktion eines „solch kleinen Lichtes“ schon als Anzeichen der sich allmählich den Durchbruch verschaffenden Paranoia zu deuten. Völlig erschöpft und mit wund gelaufenen Füssen landete Diemer schließlich in Schüttentobel im Westallgäu, wo er erneut in einem Krankenhaus „hochgepäppelt“ wurde. Nach einer längeren Odyssee durch die französische Zone zu seiner nahen und fernen Verwandtschaft, die ihn, den NS-Parteigänger, jedoch durchgängig abwies, erinnerte sich der gute Emil Joseph, völlig mittel- und obdachlos der „guten Schwestern“ und begab sich wieder „auf Wanderschaft“ in den Westallgäu.

Dort gelang es ihm tatsächlich, erneut Unterschlupf zu finden und von 1945 nach 1946 zu „überwintern“. Im Februar 1946 kam Diemer ins kleine Örtchen Scheidegg, ganz nahe der Grenze zum österreichischen Vorarlberg, wo er für die nächsten Jahre einen Unterschlupf fand. Eine große Rolle spielte dabei wohl der Apotheker des nahen Lindenberg, ein Schachfanatiker, der Diemer gegen kleine Gefälligkeiten großzügig unterstützte. Außerdem gab es in Scheidegg einen jüngst gegründeten Schachklub, dem sich Diemer anschloss, aber nicht nur diesem, sondern natürlich auch den Vereinen im nahen Lindau und in Wangen. Bevor sich Diemer dazu aufschwang, aus Lindau das „deutsche Hastings am Bodensee“ zu machen, musste er noch bange Wochen im französischen Internierungslager Balingen durchleben: Ein Schachpartner aus Konstanz hatte ihn bei der französischen Militärpolizei „angeschwärzt“, eine Widerstandsgruppe von NS-Fanatikern in Scheidegg zu unterhalten. Im Mai 1946 hatte Diemer diese schlimme Erfahrung, die seinem anwachsenden „Verfolgungswahn“ weiteren Vortrieb bot, hinter sich gelassen und er widmete sich auf seine unnachahmliche Art der Basisarbeit: Wohl auf seine Anregung fand im August 1947 tatsächlich in Lindau das erste Bodensee-Turnier mit 33 Teilnehmern statt, Diemer belegte hinter dem Österreicher Perneder, dem er in einer dramatischen Auseinandersetzung unterlag, mit 6 Punkten (aus 7) den zweiten Rang. In der Stuttgarter Schach-Welt Oktober/November 1947 findet sich Diemers Name erstmalig in der Schlagzeile einer deutschen Schachzeitung, sein „Durchbruch“ zu höheren Weihen schien begonnen. Das kleine Turnier in Wangen/Allgäu gewann Diemer, wichtiger aber sein Auftritt bei der 1. Südbadischen Meisterschaft in Endingen im Oktober 1947, wo er zwar abgeschlagen in den hinteren Reihen landete, aber wieder auf seinen „alten Freund“ Bogoljubow traf, der ihm zu neuen (und wichtigen) Kontakten verhalf. In 1948 entwickelte Diemer trotz seines entlegenen Wohnsitzes im Westallgäu ungeahnte Aktivität – praktisch bei jedem Turnier in der Region war er präsent und über das 2. Bodensee-Turnier im Juli 1948 berichtete er exklusiv in der Schach-Welt Nr. 7 – der Setzer will die „neue Zeit“ noch nicht wahrhaben und macht aus Diemers Blackmar-Gambit gegen Locher wahrhaftig ein „Blackmann“-Gambit. Bei der Mühe, 14 Rufzeichen für 31 weiße Züge auszuweisen, bestimmt zu entschuldigen. Im August 1948 klärte Diemer dann zumindest die westdeutschen Schachjünger auf: Die Caissa/Fernschachpost des Frits Barkhuis, Ende 1946 als Mitteilungsblatt für den Düsseldorfer Schachverband gestartet, brachte eine tabellarische Übersicht über seine „Theorie“, faktisch zusammengestellt aus 12 Diemer-Partien, im wesentlichen aus den Jahren 1947 und 1948. Die Redaktion (Meister Georg Kieninger ? - MN) fühlte sich zu folgender Fußnote bemüßigt:

„Ob es Herrn Diemer gelingen wird, dieses Gambit in die ‚gute Gesellschaft’ einzuführen, lassen wir offen. Grundsätzlich sei jedoch gesagt, dass es insbesondere für den Durchschnittsspieler empfehlenswert wäre, nicht jedes gedruckte Wort als Dogma zu nehmen, sondern neben eingehender Prüfung des Gedruckten der eigenen Initiative und dem eigenen Erfindungsgeist mehr Aufmerksamkeit zu widmen.“

Auch beim 2. Südbadischen Schachkongreß in Konstanz war EJD dabei und berichtete in der Schach-Welt Nr. 10 lebhaft über das Turnier mit 144 Teilnehmern und sein Missgeschick in der letzten Runde, in der er die Teilung des zweiten Platzes und damit den Stichkampf um den Titel verpasste. Solche Kunde sollte von Diemer nun zur Regel werden: Aus unerfindlichen Gründen, die im Unterbewussten liegen mochten, versäumte er es immer wieder, gewonnene Partien zu gewinnen. Als klassisches Beispiel diene folgende wichtige Partie mit dem starken Hamburger Meisterspieler und Olympiade-Teilnehmer aus dem Prestige-Kampf Hamburg gegen Freiburg.

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03.11.1950
Richard Czaya (1951)
Bild 23: Richard Czaya (1951)

Von solchen „Tragödien“ auf dem Schachbrett wurden die zahlreiche Schachzeitschriften im „schachhungrigen“ Nachkriegs-Deutschland nun überhäuft, vor allem der Berliner Der Schachspiegel von Herbert Engelhardt bot Diemer bald breiten Raum für seine Darstellungen, was durchaus nicht ohne kritische Blicke, vor allem aus Norddeutschland, abgehen konnte. Diemers Rubrik „Den unbekannten Schachkünstlern“, erstmalig im November 1948 erschienen, fand sicherlich nicht nur uneingeschränkten Beifall – so äußert sich Kurt Richter im August 1949 in den in Leipzig wiedererstandenen Deutschen Schachblättern recht kritisch mit „Es wird in letzter Zeit soviel von den ‚unbekannten Schachkünstlern’ gesprochen, dass es wirklich einmal nötig ist, die Dinge auf das richtige Maß zurückzuführen.“. Auch die überbordende Begeisterung für „sein Blackmar-Gambit“, gespickt mit ungezählten (pardon, nachgezählten) Ausrufezeichen, rief „Immunreaktionen“ hervor, so des Augsburger Meisterspielers Friedrich Nürnberg in der Bayerische Schachzeitung, Januar und Februar 1951.

Die regionale Wiederauferstehung des deutschen Schachlebens nach der Zwangs-Vereinheitlichung des Jahres 1933, der nachfolgenden „Arisierung“ der Vereine und Verbände, und natürlich der schrecklichen Verluste der Kriegsjahre führte fast zwangsläufig zu Interessenkollisionen und regelrecht zu einem Nord-Süd-Konflikt. Schon im Jahre 1946 hatte sich eine Arbeitsgemeinschaft Deutscher Schachverbände (ADS) zusammengefunden und in Weidenau 1947 unter dem Generalsekretär Alfred Brinckmann (Kiel) endgültig konstituiert. Das ging bekanntlich „schief“ – Details sind im KARL 1/2002 unter „Der Fall Linnmann“ nachzulesen. Im September 1948 war mit dem Niedersachsen Richard Czaya (Bild 23, 1905-1978) als Präsident endgültig wieder Ruhe in den ADS eingekehrt und mit der Pfalz und Nordbaden die letzten „Außenseiter“ beigetreten. In dieser Situation nahm Diemers Schicksal eine eigenartige Wendung: Er wurde vom ersten Vorsitzenden des Freiburger Schachklubs von 1887, zugleich zweiter Vorsitzender des Südbadischen Schachverbandes, dem Hotelbesitzer Friedrich A. Stock (Bild 24, 1900-1984) für dessen Verein engagiert. Für Stock war Emil Joseph Diemer aufgrund seiner hervorragenden Kenntnisse der Schachszene ein willkommener Berater und „Kundschafter“, wobei der zunehmend „verwahrlost“ wirkende Junggeselle sicherlich in den besseren Kreisen Freiburgs eher als „gescheiterte Existenz“ betrachtet wurde. Immerhin ermöglichte der neue „Gönner“ EJD die Fahrt zur Deutschen Meisterschaft im Mai 1949, stolz hieß es im Schachspiegel Nr. 6: „Ich war in Bad Pyrmont ... “, es blieb Diemers einziger Besuch bei einer Deutschen Meisterschaft. Um eine mögliche Teilnahme wurde er Ende 1953 auf denkwürdige Art und Weise gebracht, woran sein „Sponsor“ massiv beteiligt war.

Friedrich A. Stock
Bild 24: Friedrich A. Stock

Es war Stocks erklärtes Ziel, Deutschland in die FIDE zurückzuführen und er begann mit Macht, dies „diplomatisch“ in die Wege zu leiten. Auf dem 20. FIDE-Kongreß in Paris 1949, wo Deutschland lediglich durch den früheren Gefolgsmann von Walter Robinow, den Zweibrücker Hermann Römmig als Gast vertreten war, wurde auf Wunsch der Schweizer Delegation, angeführt von Dr. Erwin Voellmy, die Wiederzulassung Deutschlands vertagt. Diese erfolgte in Kopenhagen im Juli 1950 nach Gründung des Deutschen Schachbundes mit Friedrich Stock als erstem FIDE- Delegierten. Zuvor war im Dezember 1949 ein Freundschaftskampf zwischen den oberrheinischen Schachspielern und den Baslern arrangiert worden und Stock führte „Aussprachen von Mann zu Mann“, namentlich mit Voellmy, die „Berge von Briefen ersetzten“ – nachzulesen im Südwestschach Nr. 15 vom Dezember 1949.

Unterdessen hatte sich der undiplomatische Diemer in Lindau heftigen Ärger eingehandelt, die dortige Begeisterung, ein Bodensee-Hastings zu finanzieren, traf auf wenig Gegenliebe und als Diemer wie so oft kein Einsehen hatte, wusste man sich nicht anders zu helfen, als ihn aus dem Verein zu werfen. Das Turnier fand 1949 trotzdem stand, EJD verlegte es kurzerhand ins Allgäu in seinen Heimatort Scheidegg (Schach-Welt Nr. 9 1949). Der Vereinsausschluss sollte für Diemer böse Folgen haben, doch noch zeigte die Erfolgskurve des nunmehr über 40jährigen stetig nach oben. Das Arbeitspensum Diemers in dieser Zeit muss gewaltig gewesen sein, denn neben den genannten Tätigkeiten pflegte er das Fernschach, eine ausufernde private Korrespondenz und las alle Tageszeitungen, deren er habhaft werden konnte.

Allgaier Turnier 1951
Bild 25: Allgaier Turnier 1951

Neben seinem ständigen Eintreten für neue Turniere im südwestdeutsche Raum (So unter anderem für ein Allgaier-Gedenkturnier [Bild 25] in dessen Geburtsort Schussenried, den Diemer bei einem Fußmarsch durchs Allgäu „entdeckte“.), ungezählten Turnierteilnahmen und seiner umfassenden journalistischen Tätigkeit begann 1950 seine Kampagne für das INGO-Wertungssystem des Ingostädters Anton Hößlinger (1875-1960). Zahlen hatten es Diemer angetan und die Erfassung von Schach-Leistungszahlen und die Ermittlung von Ranglisten aufgrund mathematischer Formeln faszinierte ihn besonders. Doch auf große Gegenliebe, vor allem bei arrivierten Meistern aus der Vorkriegszeit, stieß dieses Wertungssystem damals nicht – wieder ein „Dorn im Auge“ der Bestandswahrer, den EJD bis über die Schmerzgrenze voranzutreiben wusste. Auf den Beitrag „Das deutsche Schach am Scheidewege“ von Herbert Heinecke in der Deutschen Schachzeitung 1952 (S. 97 f) meldete sich Diemer zu Wort und propagierte das „Ingo-System als Ausweg“ (S. 126 f). Man lese auch die Stellungnahme von Theo Schuster in der Deutschen Schachzeitung im Februar 1953 (S.111) und die nachfolgenden Diskussionen (Heft 6, S. 137 f; Heft 7, S.165 f; Heft 9 S. 228). Am 5. Februar 1950 war in Wiesbaden der Deutsche Schachbund (wieder)gegründet worden, sehr gegen den Widerstand etlicher Verbände, die zum Teil die finanziellen Ansprüche des DSB für zu hoch gesteckt ansahen. So der Südwestdeutsche Schachverband mit Dr. Werner Lauterbach (Bild 26, 1913-1989) als Sprachrohr, dem die abtrünnigen Südbadener unter Friedrich Stock allerdings entgegentraten. Auch fürchtete man im Süden um die erworbene Eigenständigkeit und sah außerdem die Frage der Ostzonen-Verbände als vordergründig zu klären an. Dem ersten Präsidenten Richard Czaya wurde die ganze Diskussion um die Finanzen, die „Pressefreiheit“ und das „Verbandsorgan“ im Jahre 1950/51 wohl zu heftig, er verzichtete auf eine erneute Kandidatur. Sein Nachfolger wurde der Hamburger Emil Dähne (Bild 27, 1902-1968), dessen Vize war Friedrich Stock. Die Deutsche Schachzeitung konnte auf Betreiben des DSB im Oktober 1950 unter der redaktionellen Führung von Rudolf Teschner ihr Erscheinen in Berlin wieder aufnehmen, vor allem die im Südwesten etablierten Zeitschriften und der Schachspiegel warfen in Laufe des Jahres 1951 „das Handtuch“.

Für Diemer ging somit ein breites Betätigungsfeld verloren, lediglich im Caissa kam er noch mit größeren Beiträgen zum Zuge. Doch Langeweile kam für ihn nicht auf: Im Oktober 1950 wurde er trotz Widerstände zum Pressewart des südbadischen Schachverbandes, dessen erster Vorsitzender sein Freiburger „Boß“ Stock nun war, gewählt; ein Amt, dass Diemer mit vollem Engagement erfüllte. Mittlerweile hatte Siegfried Engelhardt die Herausgabe eines Schach-Taschen-Jahrbuches aufgegriffen, für den Start Anfang 1951 ging ihm Diemer als fleißiger Helfer einen Monat lang in Berlin zur Hand und war mit einem eigenen siebenseitigen Beitrag, natürlich den „unbekannten Schachkünstlern“ gewidmet, vertreten. April 1951 verschaffte Friedrich Stock Westdeutschland den ersten Länderkampf im Schach nach dem Kriegsende, natürlich in Freiburg gegen die Schweiz, und da einer der Nominierten kurzfristig ausfiel, kam Emil Joseph Diemer am letzten (zehnten) Brett gegen Dr. Adolf Staehelin zum Einsatz und erzielte ein 1:1. Eine Anekdote Studiers ist bezeichnend für den Umgang Stocks mit Diemer: Um sein in schäbigen Klamotten herumlaufendes „Unikum“ einigermaßen vorzeigbar zu machen, vermachte der stattliche Stock ihm einen seiner ausgedienten Anzüge, der dem klapperdürren Diemer natürlich um die Knochen schlackerte. Dass die Taschen des Anzuges zudem mit Geldscheinen voll gestopft waren, die der naive Diemer als ehrlicher „Finder“ sofort dem „Verlierer“ zurückgab, mag ins Reich der Fabel gehören. Auf jeden Fall bekam Diemer die Betreuung in Freiburg gut, seine Erfolge des Jahres 1951 waren zahlreich und er blieb eine Stütze der ersten professionell geführten Vereinsmannschaft mit Efim Bogoljubow (Bild 28) am Spitzenbrett. Diemers umfängliche Darstellungen „Abseits der breiten Straßen“ über „Mein“ Blackmar-Gambit im ab Juli 1951 nach zwölfjähriger Pause wieder erschienenen Fernschach (Heft Nr. 5 und Nr. 6 in 1951) machten ihn zusätzlich populär in Fernschachkreisen (Bild 29). Im gleichen Jahr sollte sich Max Euwe (Bild 30, 1901-1981) in der holländischen Ausgabe des späteren Schach- Archivs, also den Losbladigen Schaakberichten, ausgiebig mit dem Blackmarschen Bauernopfer à la Diemer beschäftigen und dem geistigen Vater dieser Renaissance sogar die besondere Ehre erweisen, das Abspiel auf „Blackmar-Diemer-Gambit“ umzutaufen. Unser prophetischer Emil Joseph, jeglichem weltlichen Ruhm und Eitelkeit abhold, wäre wohl nie auf die Idee gekommen, seinen Namen in Verbindung mit dieser Eröffnung zu nennen. Das lässt sich von seinen späteren Weggefährten allerdings nicht behaupten – wer nennt die Namen all der Varianten im BDG? Sicherlich hat Max Euwe diese Gefälligkeit irgendwann bereut, denn für Diemer war er zum Ex- weltmeisterlichen Mitstreiter geworden und wurde nunmehr mit dessen nimmer enden wollenden Analysen überhäuft. Eine Antwort Euwes lässt die beginnende „Allergie“ schon erahnen:

“... Jede Stellungnahme meinerseits, richtig oder unrichtig, könnte beantwortet werden mit zehn anderen Möglichkeiten, die wieder neue Probleme aufwerfen. Und von zehn kommt man auf hundert usw. Die Gambitspiele sind eben kompliziert; und es ist oft Geschmackssache, ob man lieber den Bauern oder den Angriff hat. Nun ist das Blackmar-Diemer-Gambit ja eine interessante Spielweise, aber ich kann doch dafür unmöglich den Rest meiner schachlichen Aktivität aufopfern. Verzeihen Sie daher meine Zurückhaltung, die Sie nicht als Angst erklären müssen. Es ist vielmehr so, dass, wenn Tausende von Mücken auf einen zukommen, es absolut sinnlos ist, zehn oder hundert totzuschlagen.“

Im Jahr 1952 schien zunächst „eitel Sonnenschein“ über EJDs weiterer Schachlaufbahn zu strahlen: Das Wilhelm-Platz-Gedenkturnier in Sigmaringen im Mai 1952 wurde mit dem 4.-6.Platz (bei 18 Teilnehmern) ein guter Erfolg (Diemer platzierte einen langen Artikel darüber in der DSZ 1952, S. 229, sein erster großer Beitrag seit 1943.) und mit dem Gewinn des Nationalturniers in Zürich mit 7 Punkten (aus 9 Partien) im Juli 1952 errang er seinen ersten internationalen Turniersieg. Im parallel ausgetragenen Internationalen Meisterturnier spielte Max Euwe, gewiss für den wackeren Emil Joseph eine besondere Motivation; die Schweizerische Schachzeitung (S.123) bestätigte ihm, „mit einem unheimlichen Willen gekämpft“ zu haben. Typisch Diemersches „Zatopek“-Schach, wie der Stuttgarter Theo Schuster es an anderer Stelle formulierte. Dazu noch die holländische Variante: „Ein Zuschauer stellte fest: Diemer spielt, als hinge sein Leben davon ab! Diemer entrüstet: ‚Freilich hängt es davon ab ...!’“; so kann man es im Turnier-„Logboek“ des 20. Hoogoven-Schaaktoernoi in Beverwijk 1958 nachlesen, wo Diemer von der Bühne fiel – wer sonst, meinte Donner lapidar - und im Krankenhaus landete – wo sonst (MN)!?

Karl Weinspach
Bild 31: Karl Weinspach

Der oft übermotivierte Diemer konnte mit seinem Abschneiden beim stark besetzten badischen „Vereinigungskongress“ Anfang August 1952 in Rastatt kaum zufrieden sein: Nach gutem Start verlor er in Runde 8 (gegen Machate, weil er unbedingt gewinnen wollte) und 9, wodurch er mit 4,5 Punkten auf einem enttäuschenden Platz 14 landete. Doch nicht nur der sportliche Misserfolg lastete auf dem psychisch zunehmend labilen Diemer, er beging nun folgenschwere Fehler, die ihn unvermittelt in eine ausweglose Situation schlittern ließen:

Der neue Verbandsvorsitzende Karl Weinspach (Bild 31; beruflich als Sportredakteur tätig), keineswegs der Wunschkandidat der mächtigen Südbadener, versuchte den versierten Pressewart Diemer für seine eigene Sache zu gewinnen und bewegte ihn zudem zur Übersiedlung von Scheidegg nach Muggensturm bei Rastatt. Diemer, der dort Verwandtschaft hatte (Sein Onkel, ein Pfarrer namens Dussel, lebte in Muggensturm.), schloss sich, bar jeder Sensitivität für die Gefühle seines langjährigen Freiburger Förderers, dem neu gegründeten Schachklub Caissa Rastatt an. Dies musste Friedrich Stock, der seinen „Kandidaten“ für den Vorsitz in Baden nicht durchgebracht hatte und sich selbst nur noch auf Bundesebene und bei der FIDE betätigte, zwar nicht unbedingt stören, denn noch spielte Diemer für das Freiburger Team. Doch verständlicherweise war der Mäzen über diese Treulosigkeit seines langjährigen „Vasallen“ wenig begeistert, galt unser EJD damals als „Publikumsmagnet“, was eine Abdrift weiterer Spitzenspieler zur Konkurrenz nach Rastatt befürchten ließ. Somit begannen sich im Herbst 1952 „dunkle Wolken“ über dem ahnungslosen Emil Joseph Diemer zusammenzuballen. Begonnen hatte der gewaltige Ärger mit einem Leserbrief des Hamburger Problemisten Hans Klüver (Bild 32, 1901-1989), der seit 1946 die bekannte Schachspalte der Tageszeitung Die Welt betreute, an die Caissa Nr. 20 (2. Oktober-Heft 1952, S. 395 f). Klüver, zeitlebens ein kritischer Geist, monierte die tendenziöse Darstellung Alfred Brinckmanns in „75 Jahre Deutscher Schachbund“ in der Deutschen Schachzeitung und vor allem zur Person Walter Robinows. Ohne auf Details eingehen zu wollen, sei folgender Abschlusssatz zitiert, der den „jungen“ Deutschen Schachbund in eine tief greifende Krise stürzte:

Hans Klüver 1951
Bild 32: Hans Klüver 1951

„Mögen alle diese Schachfreunde in ihren Verbänden dahin wirken, dass in der Leitung des heutigen DSB nicht wieder jener Geist die Oberhand gewinnt, der schon einmal unser Volk in den Abgrund gestürzt hat.“

Das saß, vor allem, da in den Verbänden im Süden sich sowieso Argwohn gegen die „Hamburger Elite“ hegte, schließlich musste Klüver als „Nordlicht“ ja Bescheid wissen. Prompt gab es eine heftige (für meinen Geschmack zu sehr mit persönlichen Vorwürfen gegen Klüver gespickte) Replik des neuen DSB-Präsidenten Dähne, der seinen Privatsekretär Brinckmann im Grundsatz in Schutz und sich selbst aus der Verantwortung für besagten Artikel im offiziellen „Organ des DSB“ nahm. Damit war der Hamburger Geschäftsmann offenbar „schlecht beraten“ worden, denn mit dem schon genannten Karl Linnmann (Bild 33), zu diesem Zeitpunkt noch Vorsitzender des Hessischen Schachverbandes, sprang für Klüver unvermittelt in Caissa Nr. 23 ein „Mächtiger“ der Szene mittels Leserbrief bei. Als dann der streitbare Klüver selbst in Dezember-Heft der Caissa „heftig“ vom Leder zog und Dähne offen damit drohte, der „nächste Bundeskongreß ... wird es sich nicht nehmen lassen, den Fall (Brinckmann, der nicht ‚das Vertrauen der demokratisch gesinnten Schachfreunde genießt’) zur Sprache zu bringen“, brannte „die Lunte am Pulverfass“. Für meinen Geschmack durchaus nicht zum Missvergnügen der Caissa-Redaktion, die grundsätzlich mit der Interpretation von „Meinungsfreiheit“ seitens des DSB im Disput lag. Schließlich gaben Vorstand und Beirat des DSB in Stuttgart am 11.Januar 1953 bekannt:

Karl Linnmann
Bild 33: Karl Linnmann

„... weisen jede Verunglimpfung von Männern, die die Geschicke des DSB in verantwortungsvoller Tätigkeit ehrenamtlich leiten, entschieden zurück und bedauern, dass durch derartige Veröffentlichungen die anerkannt erfolgreiche Aufbauarbeit innerhalb des deutschen Schachlebens leichtfertig gestört wird.“

Wann und wie genau sich der Unglücksrabe Diemer in diese Affäre einschaltete, blieb unklar, doch bin ich sicher, dass der mit großem Aufwand für Pfingsten 1953 in Rastatt vorbereitete Länderkampf Deutschland – Jugoslawien und dessen kurzfristige Absage ebenfalls eine Rolle spielte. Der badische Verband (und sein Vorsitzender Weinspach) fühlte sich durch das Verhalten des Jugoslawischen Schachbundes (und wohl auch der DSB-Führung) in dieser Angelegenheit enttäuscht, eine entsprechende Äußerung findet sich in der Süddeutschen Schachzeitung Nr. 6. Ebenfalls dürfte die „Skandalentscheidung“ um die Badische Mannschaftsmeisterschaft 1953 eine Rolle gespielt haben, die Freiburg „am grünen Tisch“ wegen der Nicht-Spielberechtigung eines Spielers gegenüber Heidelberg das Nachsehen gab. Mit Brinckmann hatte Diemer wohl noch „die alte Rechnung“ offen, zudem hatte dieser in der Deutschen Schachzeitung 1952 auf S. 283 unter dem Titel „Organisation und Presse“ Diemer persönlich etwas ins Lächerliche gezogen, das gehörte „gesühnt“. Dort schrieb Brinckmann: „Emil Josef Diemer ist nicht allein ein wackerer Schachspieler, sondern ein Mann, der sich auch über schachorganisatorische Fragen Gedanken macht. Wie weiland Abraham a Sancta Clara (1644-1709, eigentlich Johann Ulrich Megerle, ein katholischer Geistlicher, Prediger und Schriftsteller, war der sprachgewaltigste christliche Prediger der deutschen Sprache des 17. Jahrhunderts – MN.) möchte er durch Bußpredigten das Schachleben aus seiner angeblichen Stagnation herausreißen und zu paradiesischen Höhen empor führen. Sein Eifer ehrt ihn und ich gestehe gerne, dass ich seine Briefe immer mit großem Vergnügen lese, obwohl ich darin gelegentlich grausam zur Ordnung gerufen werde. Wie ein roter Faden zieht sich durch seine Darlegungen die Überlegung, dass die so notwendige Breitenarbeit durch zwei Dinge mächtig voranzutreiben sei, nämlich durch die amtliche Einführung des Ingo-Systems und dadurch, dass der unbekannte Schachspieler in der Schachpresse weit mehr als bisher zu Worte komme. ...“ In seinem Text zeigt Brinckmann viel Verständnis für die „Ingo-Gegner“: „ ... Zahlen und Statistiken sind so wie so vom Teufel erfunden.“, damit konnte er dem später der „Zahlenmagie“ verschriebenen Diemer bestimmt nicht imponieren.

Fritz Sämisch
Bild 34: Fritz Sämisch

Aber nicht nur Brinckmann, sondern auch Großmeister Fritz Sämisch (Bild 34, 1896-1975) übte heftig Kritik an Diemers Art der Schachpropaganda. Hier sei auf Sämischs späteren Aufsatz „Über das Blackmar-Gambit“ im Schach-Echo 1955, S. 124 verwiesen, der ebenfalls Parallelen zum „Schachnarren“ Gutmayer aufzeigt.

Letztlich scheint Diemer irgendwann begonnen zu haben, die Funktionäre des DSB reihenweise persönlich zu beschuldigen, da ging es unter anderem um die Nichterfüllung von (finanziellen) Zusagen. (Wohl in Richtung Friedrich Stock gemünzt, angeblich war Diemer die Sanierung seines desolaten Gebisses in Freiburg zugesagt worden.) Dass Diemer die NS-Vergangenheit, der „großzügige Umgang“ mit Verbandsgeldern und die „Neigung zu engeren Kontakten auch zum gleichen Geschlecht“ (Man ziehe die Festschrift 100 Jahre Kieler SG von 1884, S. 35 zu Rate.) des Hauptbeschuldigten Alfred Brinckmann, der „pikanterweise“ trotz der Kritik Klüvers und anderer im April 1953 beim Kongress in Berlin zum Turnierleiter des DSB gewählt wurde, ebenfalls adressiert hatte, mag als gesichert gelten. (Homosexualität galt Diemer, der sich selbst nach eigenem Bekunden körperlicher Liebe entsagt hatte, als großes Übel.) Wie auch immer, es war ein großer Fehler Diemers, bei seinen Anwürfen das offizielle Briefpapier des Badischen Schachverbandes zu verwenden, und es war ein unverzeihliches Versäumnis der Verbandsführung, Diemer nicht umgehend Einhalt zu bieten.

Unverdrossen kämpfte EJD für die scheinbar „gerechte“ Sache und stand weiterhin für den Verband „auf dem Brett“ seinen Mann (Bild 35).

Emil Joseph Diemer, Gaggenau (1953)
Bild 35: Emil Joseph Diemer, Gaggenau (1953)
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21.06.1953

Beim Rückkampf am 20. September 1953 in Sigmaringen versuchte Diemer am ersten Brett für Baden über Stunden in einer Remisstellung Egon Joppen niederzuringen, im Nebenraum wurde derweil über sein weiteres Schicksal entschieden. Friedrich Stock warf ihn „vor aller Ohren“ aus dem Freiburger Team: „Sie brauchen nicht zu kommen“, lautet die klare Ansage, der so öffentlich Gemaßregelte war schier außer sich. Die im Hintergrund ablaufenden „Machtspiele“ zwischen Weinspach und Stock mögen ein Übriges dazu beigetragen haben: Im Oktober 1953 verkündete die DSZ (S.20):

„Sperre über Badischen Schachverband. Wegen Nichtbeachtung des §5 der Satzungen des DSB hat Präsident Emil Dähne den Badischen Schachverband gesperrt, so dass alle in Baden geplanten Veranstaltungen des Deutschen Schachbundes ausfallen müssen. ... Diese bedauerliche Entwicklung ist durch die Äußerungen eines Vorstandsmitgliedes des Badischen Schachverbandes hervorgerufen worden, die gegen führende Männer im deutschen Schach gerichtet waren und gegen die guten Sitten verstießen. Dem vom DSB geforderten Ausschluss dieses Mitgliedes stimmte aber der Badische Landesverband nicht zu ...“

In der Süddeutschen Schachzeitung vom Oktober 1953 liest sich das Ganze nach der Tagung der Arbeitsgemeinschaft der Süddeutschen Schachverbände schon wieder versöhnlicher:

Max Eisinger jun.
Bild 36: Max Eisinger jun.

„Die deutsche Schachöffentlichkeit musste mit Bedauern von einem Konflikt zwischen dem DSB und dem Badischen Schachverband in den letzten Wochen Kenntnis nehmen. Erfreulicherweise konnte auf der Stuttgarter Tagung ein Weg gefunden werden, diese Differenzen folgendermaßen zu beseitigen: Nach Empfehlung der Arbeitsgemeinschaft der süddeutschen Schachverbände erklärte sich der Herr Diemer bereit, sein Amt als Pressewart im Badischen Schachverband zur Verfügung zu stellen, bis ein Ehrenrat entschieden hat, der schnell möglichst zusammentreten soll. Der Vorstand des Badischen Schachverbandes hat sich mit dieser Form der Beilegung einverstanden erklärt. ... Der DSB hat ... die Sperre des Badischen Schachverbandes mit sofortiger Wirkung aufgehoben ...“ (und einen weiteren Spieler neben Eisinger zur gesamtdeutschen Meisterschaft zugelassen – MN).

Sportlich hatte Diemer ein extrem erfolgreiches Jahr hinter sich, um Ende 1953 vor einem „Scherbenhaufen“ zu stehen: Er wurde Badischer Pokalsieger und war damit auf Bundesebene für den Wettbewerb um den „Silbernen Turm“, später dann „Dähne-Pokal“, qualifiziert, schließlich gespielt hatte dann sein Finalgegner Schubert (Heidelberg).

Beim Badischen Schachkongress musste er ganz knapp Barnstedt den Meistertitel überlassen und teilte mit Max Eisinger jun. (Bild 36, 1909-1989), der ihn in einem über sieben Stunden langen Endspiel in der letzten Runde niedergerungen hatte, den zweiten Platz.

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1953

Gegen den früheren Badischen Meister und vormaligen Verbandsvorsitzenden, Dr. Werner Lauterbach, der sich nach heftigen Auseinandersetzungen mit der neuen DSB-Führung „auf der Minimalen“ arrangiert hatte, gelang Diemer ein „Kabinettstück“. Schade nur, dass die Partie wegen des Rücktrittes von Lauterbach aus der Wertung genommen wurde.

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1953

Im Herbst teilte Diemer mit Kraus (Freiburg) den ersten Platz im doppelrundigen Viererturnier in Varnhalt (bei Bühl), das um den zusätzlichen Teilnehmerplatz bei der Gesamtdeutschen Meisterschaft in Leipzig angesetzt wurde. Der Freiburger sah keinen Anlass, zu einem weiteren Stichkampf anzutreten, wohl weil ihm von seinem Vereinschef Stock schon der Ausschluss Diemers „gesteckt“ wurde. Noch gab man sich allerdings im Badischen Verbandsvorstand, was das Schicksal Diemer betraf, offiziell optimistisch: „Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass der Badische Mannschaftsmeister – Heidelberg 1879 – sowie der Pokalsieger Diemer, falls dies möglich ist, in die Kämpfe auf Bundesebene eingreifen dürfen.“ Bald danach überstürzten sich die Ereignisse, die Emil Joseph Diemer um sein Lebensziel, die Teilnahme an einer Deutschen Meisterschaft, aber auch um seinen kargen Lebensunterhalt als Berufsschachspieler bringen. Der Ehrenrat des DSB, angeführt von Ex-Präsident Richard Czaya, tagte am 01.11.1953 in Stuttgart, Diemer nahm alle Anschuldigungen mit dem Ausdruck des Bedauerns zurück. Doch am 03.11.1953 „platzte die Bombe“: Dem DSB-Präsidium war der faule Kompromiss des Ehrenrates zu wenig, man wollte „volle Satisfaktion“, d.h. den Ausschluss Diemers aus dem Badischen Schachbund. Deshalb trat der Vorstand bis auf zwei Präsidiumsmitglieder zurück, der DSB war bis auf weiteres formal handlungsunfähig. Erst im November 1953 gab der Badische Schachverband dazu bekannt: „Infolge der damals ungeklärten Lage kam der angesetzte Stichkampf Diemer – Kraus nicht zustande. Durch das Stuttgarter Ehrenrats-Verfahren erhielt zwar Diemer seine vollen spielerischen Rechte zurück, jedoch erklärte der Verbandsvorsitzende wegen der angespannten Gesamtlage nach Vermittlung des Vorsitzenden des Ehrenrates, Czaya, zwischen dem DSB und Baden, Diemer nicht nach Leipzig zu entsenden. Diemer willigte ein.“

Letzteres ist kaum zu glauben, aber möglicherweise hatte man Diemer mit einem „Vorschlag zur Güte“ vertröstet, der für ihn tragbar erschien und die erworbenen Teilnahmeberechtigungen wahrte. Diemer spielte „treu“ Vergleichskämpfe gegen die Pfalz und die Saar, jeweils am ersten Brett für Baden, um am 05.12.1953 durch folgende Bekanntmachung „aus der Bahn“ geworfen zu werden:

„E. J. Diemer wurde am 05.12.1953 laut eines Vorstandsbeschlusses aus dem badischen Verband ausgeschlossen, weil er sich nicht an ausdrückliche Weisungen des Vorstandes hielt, die ihm nach dem Abschluss des Ehrenverfahrens gegeben wurden.“

So die offizielle Version, klar ist, dass die DSB-Spitze einschließlich Stock mit der Empfehlung des Ehrenrates nicht konform ging und die „Machtprobe“ übte. Am 06.12.1953 wurde auf dem außerordentlichen Kongress des DSB in Lindenfels/Odenwald vom wieder inthronisierten Präsidium über dem Fall Diemer „die Akten“ geschlossen und der Hamburger Schachverband ersucht, Herrn Klüver, Hamburg, wegen fortgesetzter Schädigung der Belange des DSB aus dem Hamburger Schachverband auszuschließen. (Fraglich, ob Hans Klüver überhaupt Mitglied war, denn er spielte nur in einer Betriebsschach-Gruppe.) Ferner sprach die Versammlung Herrn Linnmann, Wiesbaden, wegen fortgesetzter Schädigung der Interessen des DSB seine schärfste Missbilligung aus. (Ende der Zitate aus der Süddeutsche Schachzeitung, Dezember 1953.)

Auch das Verhalten des Badischen Vorsitzenden Weinspach im Zusammenhang mit dem Fall Diemer wurde erörtert, Karl Weinspach legte im September 1954 alle seine Verbands-Ämter nieder. Um den lästigen Karl Linnmann endgültig loszuwerden, sah sich der DSB im Jahre 1955 nochmals gezwungen, das bewährte „Rücktrittsmanöver“ vom Stapel zu lassen, doch das ist aus KARL 1/2002 hinlänglich bekannt. Für Emil Joseph Diemer war seine Welt zusammengebrochen, erneut fühlte er sich völlig unverstanden und verfolgt. Er flüchtete sich vollständig in „sein BDG“, nur wenige Schachfreunde, darunter auch Karl Weinspach, unterstützen ihn weiterhin nach ihren Möglichkeiten.

Immerhin erlebte Diemer, dem ja die schachliche Betätigung in Deutschland nur noch im Fernschach oder bei Vereinsveranstaltungen möglich war, im Jahre 1956 eine Art „Höhenflug“. Diesen möchte ich im O-Ton Diemer (aus seinem Leserbrief an den Spiegel, abgedruckt auf Seite 7 am 02. Januar 1957) wiedergeben:

“Mit größtem Interesse habe ich den Artikel ‚Schlankheitsmittel – Zum Glück der Damen’ gelesen. Etwas verärgert hat mich allerdings Ihre leicht ironische Randbemerkung über ‚Energlut-Gehirn- Direktnahrung’. Denn für mich, der ich heute immerhin schon 49 Jahre alt werde, war ‚Energlut’ die Voraussetzung zu geradezu unwahrscheinlichen Erfolgen bei fünf internationalen Schachturnieren in knapp zehn Monaten. Ich gewann im Januar das erste Reservemeisterturnier in Beverwijk (Holland), im August die ‚offene Schachmeisterschaft der Niederlande’ in Kampen, sofort anschließend das kleine internationale Turnier in Rapperswill (Zürichsee), im Oktober wurde ich geteilter Zweiter in der sehr stark besetzten Schweizer Schachmeisterschaft in Thun (schlug zwei internationale Meister, Blau und H. Johner, erzielte gegen die Schweizer Olympiamannschaft 3,5 Punkte aus 4 möglichen), und zum Abschluss wurde ich Zweiter bei einem kleinen internationalen Turnier in Gent (Belgien). Ohne ‚Energlut’ wären diese Erfolge ‚am laufenden Band’, bei einem halben Jahrhundert auf dem Buckel, völlig undenkbar gewesen. Dass ich Ihnen diesen Brief geschrieben habe, musste ich tun, schon allein, um auch auf diesem Wege meiner Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen für dieses wirkliche Wundermittel. Bitte, nein lieber SPIEGEL, nichts für ungut. – Dass meine Turniererfolge schließlich auch Erfolge für Deutschland waren, das nur nebenbei!

Muggensturm bei Rastatt Emil Josef (sic) Diemer, Schachmeister.“

Schweizer Meisterschaft 1956 in Thun
Bild 37: Schweizer Meisterschaft 1956 in Thun

Dieser erneuten „Hochzeit“ Diemers, der rasch ein tiefer Absturz in die „Wahrnehmungsverzerrung“ folgte, war die Gründung der so genannten Blackmar-Gemeinde – Aus der Praxis meines Systems, das lautet: Vom ersten Zuge an auf Matt spielen! vorausgegangen. Die Publikation in Gestalt von Heften, deren Summe einen dicken Band von 356 (+70) Seiten ergeben würde, verschickte EJD ab 25. November 1955 an alle Interessenten (und Desinteressierten). Das war letzten Endes ein deutliches Verlustgeschäft für ihn, da er die Druck- und Versandkosten niemals ersetzt bekam. Ende 1956 war dann Schluss, Diemers Gläubiger wurden ungeduldig, doch die Blackmar-Begeisterung ging um die ganze Welt. Selbst in den USA gab es später ein Pamphlet Die Blackmar-Gemeinde, welches von Nikolaus Kampars (Lincoln, Wisconsin) herausgegeben wurde.

Noch ein kurzer Rückblick auf Diemers größten Turniererfolg: Hätte er nicht in der letzten Runde gegen den italienischen Meisterspieler G. Ferrantes „trotz Blackmar-Gambit ... seine Dame am Damenflügel hoffnungslos verlocht“ (Originalzitat Schweizerische Schachzeitung 1956, S. 210), wäre EJD wohlmöglich Schweizer Meister (Bild 37) geworden. Durchaus mit Recht, wenn man sich die folgende Partie anschaut.

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B3410.1956

Wie eindruckvoll Emil Joseph Diemer noch Mitte der siebziger Jahre mit seinem „totalen Schach“ aufzutrumpfen wusste, erlebte ich mit eigenen Augen (und Ohren) im Mai 1975 beim Open im luxemburgischen Bad Mondorf, wo er mit 5,5 Punkten (aus sieben Partien) den 3.-8. Platz (unter 151 Teilnehmern) belegte. Kurz zuvor gelang ihm im Straßburger Turnier der folgende Coup:

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03.1975
"Chess-Rock-Star" Emil Joseph Diemer
Bild 38: "Chess-Rock-Star" Emil Joseph Diemer

Laut Zinser die beste Partie des Turniers, honoriert mit anhaltendem Beifall des Publikums; Emil Joseph Diemer wurde bei seinen Auftritten in den siebziger Jahren zu einer Kult-Figur, einem „Chess-Rock-Star“ wie ihn Eric Petit sah (Bild 38). Abschließend möchte ich kurz auf meine ganz persönliche Erfahrung mit EJD eingehen, dies ergab sich bezeichnender Weise am Tag des großen Erdbebens in Süddeutschland (3. September 1978). Gegen 6 Uhr morgens schreckte mich ein dumpfes Grollen aus dem wackelnden Bett des Studentenwohnheimes in Straßburg, nachmittags saß ich unvermittelt dem „leibhaftigen“ D I E M E R (Bild 39) gegenüber.

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03.09.1978
Emil Joseph Diemer
Bild 39: Emil Joseph Diemer

Erst am folgenden Tag wurde das Ausmaß der Schäden im Zollernalbkreis, der zum Katastrophengebiet erklärt wurde, bekannt, und der Nostradamus-Jünger, der schon alle Tageszeitungen, denen er habhaft werden konnte, studiert hatte, verkündete mit weit aufgerissenen, flackernden Augen beim Frühstück den kommenden Weltuntergang. An unsere Partie konnte er sich nicht mehr erinnern ...

Dank und Quellen

Emil Joseph Diemer
Bild 40: Emil Joseph Diemer

Mein besonderer Dank gilt meinem langjährigen Schachfreund Manfred Mädler (Dresden), der mir wertvolles Originalmaterial aus seinem Archiv zur Verfügung stellte, aber auch manche Anekdote zu Emil Joseph Diemer zu berichten wusste. (Dazu auch KARL 1/2002, S. 37 ) In 1996 erschien in der Edition Mädler die mehrfach zitierte Biographie, verfasst von einem der treuesten Anhänger Diemers: Georg Studier Emil Joseph Diemer Ein Leben für das Schach im Spiegel der Zeiten. Dieser Titel und auch weitere Ausgaben zum BDG [So Vom ersten Zug an auf Matt!, zum Teil mit signiertem Diemer-Bildnis (Bild 40)] sind derzeit in Dresden noch vorrätig.

Ebenfalls sehr hilfreich war die bereitwillig gewährte Unterstützung durch Dany Sénéchaud (Châtellerault, Frankreich), dessen schönes Buch Missionnaire des Échecs acrobatiques nunmehr in der dritten Auflage (La Libre Case, 2003, auf dem Titel Bild 41) vorliegt und auf 263 Seiten vor allem die schachlichen Fakten zu Emil Joseph Diemer in hervorragender Weise aufbereitet. Eine gute Ergänzung zum Studier-Buch, auch wenn man die französische Sprache nicht beherrscht.

Last not least sei meinem Freund Dr. Ralf Binnewirtz (Meerbusch-Bösinghoven) für seine wertvolle Faktensuche zu Hans Klüver und dem „Fall Diemer“ gedankt.

Emil Joseph Diemer
Bild 41: Emil Joseph Diemer

Die (skandalösen) Vorgänge in der Frühzeit des DSB finden sich (etwas verklausuliert) in Alles über Schach in Baden, von Werner Lauterbach im Eigenverlag im Jahr 1985 herausgegeben.

Das launige „Buch des Propheten“ Donner The King wurde soeben neu aufgelegt von New in Chess, dort empfiehlt sich The Prophet from Muggensturm. Ebenfalls empfohlen seien die Kaissiber-Hefte Nr. 3 (S.37-43) mit einer Rezension des Studier-Buches von Hans Ree und Nr. 5 (S.42-59) mit einer Spielstärkenanalyse Diemers durch Stefan Bücker.

An dieser Stelle möchte ich auch auf das Buch von Alan Dommett A Life Devoted to Chess (The Book Guild, Sussex, England, 2003) verweisen, der zwei Monate nach Diemers Tod einen schweren Unfall erlitt. Seitdem ist der Engländer an einen Rollstuhl gefesselt und die Arbeit am Blackmar- Diemer-Gambit half ihm über die schwerste Zeit hinweg.

EJD hätte dieses Schicksal sicherlich tief bewegt.

Hilfreich war ebenfalls die gut sortierte Materialiensammlung von Wieland Belka, die sich im Internet auf der Diemer-Gedenkseite findet: http://www.belkaplan.de/chess/bdg/

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