Zu Besuch in einer alten Schachmetropole
Regionales Treffen der Ken Whyld Association in Wien, 1. bis 3. Oktober 2010
Zum diesjährigen regionalen KWA-Treffen hatten sich knapp 20 Teilnehmer in der österreichischen Hauptstadt eingefunden, die natürlich für ein Treffen von Schach-Historikern prädestiniert erschien, war diese Metropole doch für über ein halbes Jahrhundert (ca. 1880 bis 1938) ein europäisches Schachzentrum von herausragender Bedeutung. Nicht von ungefähr hatte seinerzeit die Zeitschrift KARL der glanzvollen schachlichen Vergangenheit der Donaumetropole mit einem Schwerpunktthema Rechnung getragen (in Heft 2/2009).
Unsere international zusammengesetzte Gruppe, die noch von Wiener Gästen, Ehefrauen und Begleitpersonen ergänzt wurde (siehe First Snapshots from Vienna) traf sich zunächst im Haus des Schachsports, dem Vereinssitz des Wiener Schachverbands, der als Tagungsort für das Treffen vorgesehen war. Organisatorisch betreut wurden wir von den beiden Vizepräsidenten des Verbands, René Schwab und Johann Pöcksteiner (Vorstand), der erste führte uns zu Beginn auch durch die Räumlichkeiten.
Am Nachmittag stand der Besuch der Hofburg auf dem Programm, dort wurde zunächst die Sammlung von Handschriften und Alten Drucken (HAD) der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB) besichtigt. Fachkundige Unterstützung erhielten wir von den Herren Ernst Gamillscheg (Experte der HAD) und Hans Petschar (Direktor des Bildarchivs und der Grafiksammlung der ÖNB), die uns eine Reihe von mittelalterlichen Handschriften und Traktaten vorstellten.
Die nachstehenden Bilder geben einen Eindruck vom Prunksaal der ÖNB, der gerade die Ausstellung "Juden, Christen und Muslime. Interkultureller Dialog in alten Schriften" beherbergte.
Weitere Details zu dieser wunderschönen Bibliothek im Barockstil sind auf der zugehörigen Website www.onb.ac.at/prunksaal.htm (mit virtueller Rundschau) zu finden.
Obligatorisch war natürlich der Besuch des berühmten Café Central in der Herrengasse, bei dem sich unser Wiener Mitglied Karl Kadletz als s(ch)achkundiger Führer erwies.
Zum gemeinsamen Abendessen war kein gängiger Heuriger für Touristen gewählt worden, sondern eine traditionelle Buschenschank in Neustift am Walde. (Näheres zu Heuriger/Buschenschank siehe de.wikipedia.org/wiki/Heuriger.)
Alternativ zum Heurigen konnte auch eine Aufführung der Schachnovelle im Pygmalion-Theater besucht werden, dies wurde von unserem Mitglied Siegfried Schönle, der ein Kenner von Stefan Zweigs Novelle ist, wahrgenommen (erwähnt sei in diesem Zusammenhang der Artikel von Siegfried Schönle: "Sechs Illustratoren, ein Text – «Schachnovelle»", in: KARL 1/2010, S. 26-31).
Am nächsten Vormittag fand das geplante Treffen in Michael Ehns Schachverlag und Antiquariat Schach und Spiele statt, das allerdings nicht nur ein Geschäft für neue und antiquarische Schachliteratur, sondern auch Sitz des gleichnamigen Klubs Schach&Spiele ist – mehr darüber können Sie auf der Shop-Website erfahren.
Michael Ehn, weithin bekannt als Schach-Historiker, Sammler und Autor, hatte noch in KARL 2/2009 (S. 48-53) ein umfängliches Porträt von sich selbst gegeben. Anlässlich unseres Besuchs hielt er ein Referat über die Geschichte des berühmten Wiener Schachverlags, aus dem schließlich sein Schachgeschäft hervorgegangen ist, und stellte uns seine eigenen Bücher sowie die Verlagspublikationen vor. Eines seiner neuesten Werke, das er gemeinsam mit Ernst Strouhal verfasste – en passant, ruf & ehns enzyklopädie des schachspiels – ist gerade erst von Harry Schaack mit einer höchst positiven Rezension bedacht worden (Wundervoller Dauerbrenner, in: KARL 4/2010, S. 63). Michael Ehn deutete an, weitere fertige Manuskripte vorliegen zu haben, bei der Suche nach einem Verleger ist er bislang allerdings nicht fündig geworden.
Unser Senior-Teilnehmer Kurt Landsberger ergriff als Nächster das Wort, er erzählte über die von ihm betriebene Ahnenforschung zur Steinitz-Familie in der Phase der NS-Verfolgung. Die Ergebnisse seiner Forschungsarbeit sollen in sein nächstes Buch einfließen.
Im Anschluss präsentierte Hugo Kastner (Autor von Das große humboldt Schachsammelsurium, 2008) sein gemeinsam mit Michael Ehn erstelltes Werk Alles über Schach. Mythen, Kuriositäten, Superlative (humboldt, Hannover 2010) – hier eine Leseprobe (PDF) sowie eine Rezension aus dem Glarean Magazin.
Als nächste Station unseres Treffens war am Nachmittag der Besuch des Zentralfriedhofs vorgesehen, unser Interesse galt dort dem alten jüdischen Teil mit den Gräbern ehemaliger Schachgrößen. Hierbei profitierte unsere Gruppe von den Vorarbeiten Michael Ehns, zu dessen verdienstvollen schachlichen Aktivitäten u.a. das Aufspüren und die Dokumentation von vergessenen Grabstätten Wiener Schachspieler gehört. Dabei pflegt er auch überwucherte Gräber wieder freizulegen.
Der restliche Samstagnachmittag war dem ersten Teil der KWA-Vortragsserie im Haus des Schachsports vorbehalten. Für den Plenarvortrag hatten wir diesmal Tony Gillam gewonnen, der das Schicksal der russischen Meister nach dem Turnierabbruch in Mannheim 1914 beleuchtete: die nach Kriegsausbruch internierten Aljechin, Bogoljubow, Rabinowitsch u.a. mussten eine Wanderung durch deutsche Gefängnisse antreten...
Der Ausgangspunkt des Folgebeitrags von Toni Preziuso war der Kurzfilm Białystok 1897 (s.u.), der uns in den damaligen russischen Teil Polens führt. Als angehender Rubinstein-Biograph war Toni der Frage nachgegangen, wie sich die Anfänge Akiba Rubinsteins im russisch-jüdischen Umfeld jener Zeit abgespielt haben könnten. (Die Familie Rubinstein war bald nach der Geburt des kleinen Akiba [*1882] nach Białystok gezogen, wo er als Jugendlicher auch das Schachspiel erlernte.)
Alternativ der Link zum Video: http://www.youtube.com/...
Weitere historische Bilder von Białystok:
Bialystok - Nikolaistraße
Bialystok - Marktstraße mit Stadtuhr
Bialystok - Marktstraße
Bialystok - Lindenstraße
Bialystok - Ulica Lipowa
Den dritten und letzten Vortrag des Tages absolvierte unser Schatzmeister Michael Negele, der nochmals die abwechslungsreiche Historie der Wiener Schachzeitung aufgriff – "all what a collector should know about". Hierzu bieten wir seine Powerpoint-Präsentation (35 MB, als PDF) an und verweisen außerdem auf einen früheren Artikel des Referenten (Michael Negele: "Glanz & Elend des Schachorgans. Die bewegte Geschichte der Wiener Schachzeitung", in: KARL 2/2009, S. 20-27).
Am Sonntagvormittag traf man sich erneut im Haus des Schachsports zur Mitgliederversammlung – mit den Berichten des Vorstands sowie einer Bestandsaufnahme der Vereinsaktivitäten.
Hiernach schloss sich der zweite Teil der Vortragsreihe an, bei der unser Gastgeber Karl Kadletz den Anfang machte. Er thematisierte zwei in Wien angesiedelte Kunstobjekte: das Gemälde "Die Schachpartie" (1839) von Josef Danhauser, ausgestellt im Oberen Belvedere, und das Schachspiel des Schnitzers Rupert Grießl aus der Steiermark (1898), das sich im Wiener Volkskundemuseum befindet. Beide Exponate bilden zugleich zahlreiche Zeitgenossen ab, wie auch in dieser kurzen Präsentation zu erkennen ist.
Alessandro Sanvito beleuchtete in seinem Vortrag "New documents on the Bonus Socius" neue Quellen zu der mittelalterlichen Mansuben-Sammlung. Seine Anwesenheit in Wien gab denn auch Gelegenheit, die gerade erschienene Festschrift zu seinen Ehren (erster Band) persönlich zu überreichen, was von dem Wiener Verleger Robert Karner (Refordis Verlag) und den anwesenden Herausgebern wahrgenommen wurde. (Diese Übergabe fand parallel zu unserer Veranstaltung an einem anderen Ort statt.)
Den Schlusspunkt in der Vortragsreihe setzte unser Wiener Mitglied J. Walter Simon, der über seine Schachexkursionen in ferne Länder berichtete – Südamerika, Nepal und die Emirate waren die Reiseziele, die er zum Zwecke des Studiums und Sammelns besucht hat.
Mit dem traditionellen KWA-Büchermarkt fand unser Wiener Treffen ein stimmiges Ende. Hier noch eine Bildergalerie mit weiteren 32 Fotos von unserem Vienna Meeting 2010.
Ein herzliches Dankeschön geht an die engagierten Vorbereiter und Organisatoren Karl Kadletz und J. Walter Simon, die unter Mithilfe von Michael Ehn diese großartige Zusammenkunft von Schachhistorikern möglich gemacht haben.
(Text teilweise in Anlehnung an den Artikel von Karl Kadletz, "Internationales Schachtreffen in Wien", in: Schach-Aktiv 12/2010, S. 642-645 [R.B.])