Schicksal eines „Fräuleinwunders“ – der Lebensweg der Sonja Graf-Stevenson

Sonja Graf
Bild 1: Sonja Graf

Von Michael Negele (Bearbeitung vom 10.02.2007, die gekürzte Fassung erschien in Karl 3/2004, S. 28-34.)

Beim Blättern in einem alten Jahrgang des Schach-Echos entdeckte ich zufällig das Foto (Bild 1) einer jungen Frau, deren hintergründig verschmitztes Lächeln mich unvermittelt fesselte. Wer war dieses „Fräulein Sonja Graf“ und warum wurde sie, 1934 von Dr. Eduard Dyckhoff (Bild 2) im Magyar Sakkvilag (April-Heft S. 83-85) als „Die Deutsche Schachmeisterin“ bezeichnet (Texte A..), in der Folgezeit kaum noch in den zeitgenössischen deutschen Schachzeitungen erwähnt?

Damit begannen umfängliche Recherchen, deren Resultate das bewegte Leben einer schillernden Persönlichkeit nachzeichnen lassen.

Geboren wurde Sonja Graf angeblich am 15.05.1912 in München; zumindest folgerte dies aus den biografischen Angaben von Alfred Diel in „Der Bayerische Schachbund – Aufbruch in das dritte Jahrtausend, 2000“. Doch das Nachschlagen in „Chess Personalia A Biobibliography, 1987“ gab Rätsel auf, denn der akribisch-gewissenhafte Jeremy Gaige nannte den 16.12.1914 als ihren Geburtstag und bezog sich dabei auf Angaben im Totenschein. Als ein drittes Geburtsdatum bot sich der 18.12.1912 an – dieses wird explizit in einer ausführlichen Würdigung Sonja Grafs in der kurzlebigen tschechischen Wochenzeitschrift Šachový týden genannt, erschienen am 8. April 1937 im Vorfeld des Prager Turniers (Text B).

Eduard Dyckhoff
Bild 2: Eduard Dyckhoff

Doch gab es Indizien, dass Sonja Graf sogar vor 1912 geboren war, denn in der Deutschen Schachzeitung 1965 gab Rudolf Teschner im kurzen Nachruf des Juli-Heftes (S. 237) ihr Alter mit 56 Jahren an, diese Angabe beruht wahrscheinlich auf dem im August-Heft (S. 270 f) wiedergegebenen Leserbrief eines Zeitzeugen. Bereits im erwähnten Magyar Sakkvilag wurde sie von Dyckhoff als 24jährige vorgestellt, dieses Alter schien mit ihrem Erscheinungsbild in späteren Jahren übereinstimmen. Diese Diskrepanzen waren Anlass für ausgiebige Nachforschungen in Münchner Archiven, hartnäckig durchgeführt von Alfred Schattmann, der schließlich am 26. Februar 2005 freudig folgenden Satz aus einem Schreiben des Münchner Stadtarchivs (Text C) zitieren konnte:

„Das Rätsel um die Abstammung der Schachspielerin Sonja Graf ist nun gelöst ... “.

Später unterstützte Willibald Müller (ebenfalls München) das weitere Bemühen, Licht in die verworrene Lebensgeschichte der Susanna Graf (den Namen Sonja führte sie erst später) zu bringen. Es würde jedoch den Rahmen dieser biographischen Würdigung bei weitem sprengen, hier alle Erkenntnisse der Herren Schattmann und Müller zur kaum glaublichen Familien-Saga der Grafs wiederzugeben.

Die Familie des Vaters, Josef Graf (*23.07.1869; +09.10.1935 in München an den Folgen eines Verkehrsunfalls) stammte aus Liebental, einem kleinen Dorf in Wolgagebiet, unweit der Stadt Samara (1935-1900: Kujbyschew), seine Eltern Johannes Graf und Barbara, geborene Paul, waren Bauern. Seine „Frau“ Susanna Zimmermann (*08.05.1876; + 14.02.1953 in München) wurde in Rownoje (deutsch: Seelmann), ebenfalls nahe Samara geboren, ihre Eltern waren der Kaufmann Friedrich Zimmermann und dessen Frau Anna (geborene Kolsing) (Texte D.).

Das junge Paar lebte ab September 1906 in München, dort wurde zuvor die älteste Tochter, Maria (genannt Emilie, sie heiratete einen Michael Birkenbihl) laut Geburtsregister am 29.11.1900 (angeblich bei der Ankunft auf dem Münchener Hauptbahnhof) geboren. Wahrscheinlich war die „Familie“ dann wieder nach Russland zurückgekehrt und lebte in der Hafenstadt Taganrog am Asowschen Meer (Teil des Schwarzen Meeres). Zwei weitere Kinder kamen bis zur Übersiedlung nach Bayern zur Welt: Valeria (*26.05.1904) und Oskar Melchior (*19.01.1906, + am 06.02.1945 im Zuchthaus Halle, hingerichtet wegen Fahnenflucht.). Das vierte Kind, der nächste Sohn namens Alex, wurden dann wieder in Bayern geboren (*07.09.1907, +1983), und zwar in Dachau nahe München.

Die Münchener Dokumente belegen eindeutig, dass Susanna (Sonja) Graf als fünftes Kind der Grafs am 16.12.1908 zur Welt kam, die „Familie“ lebte damals in der Ainmillerstr. Nr. 22. Es sind noch drei jüngere Geschwister von Susanna Graf in München geboren: Helene (*28.02.1910 in München; +29.01.1930) – sie ist somit mit jener "Hella" identisch, die in "Yo Soy Susann" auf S. 19 erwähnt wird. Dann noch die Söhne Cyril (*08.06.1911) und Artur Wolfgang (* 07.10.1912). Die vielköpfige Familie zog im Januar 1915 in die Elisabethstr. 45 (III. Stock), der Beruf des Vaters wird als Künstler (Kunstmaler) und (katholischer!) Priester, später dann als "Magnetopath" angegeben. Am 14.06.1919 erhielt der Vater (und die Familie) als so genannter wolgadeutscher Rückwanderer die deutsche (bayerische) Staatsangehörigkeit und die Grafs heirateten am 19.04.1920 - mit acht Kindern, die älteste Tochter Maria war mittlerweile 20 Jahre alt!

Text E:

Hochinteressant ist Susanna (Sonja) Grafs Eintrag in der Registrierkartei (Text E): Ihr Beruf wird mit "Kindermädchen" und "Kunstgewerblerin" angegeben, später wird sie als "Schachmeisterin" geführt.

Über den Beweggründe, die Sonja Graf zum Schach führten, wird von ihr selbst ausführlich in den beiden in den vierziger Jahren in Argentinien publizierten Büchern berichtet, die in Europa nahezu unbeachtet blieben. Weitgehend objektiv erscheinen mir ihre Schilderungen in "Asi juega una mujer ...“, Buenos Aires 1941, (Titel F) eigentlich eine Mixtur aus Schach-Lehrbuch, Autobiographie und Partiesammlung. (Es enthält 50 kommentierte Partien von Sonja Graf aus den Jahren 1932 bis 1940.) Hingegen fällt es mir schwer - und dies nicht nur wegen mangelhafter Spanischkenntnisse, im in der dritten Person geschriebenen autobiographischen Roman „Yo soy Susann“, Buenos Aires 1946 (Titel G) eindeutig zwischen Fiktion und Wirklichkeit zu unterscheiden.

Asi juega una mujer … (Buenos Aires 1941)
Titel F: Asi juega una mujer … (Buenos Aires 1941)
Yo soy Susann von 1946
Titel G: Yo soy Susann von 1946

Dort wird Sonjas Vater als Priester der russisch-orthodoxen (sic) Kirche vorgestellt, der sich in ihre Mutter, die angeblich aus einer alten weißrussischen Familie stammte, verliebte und deshalb sein Priesteramt aufgab. Da die Familie ihrer Mutter gegen diese Verbindung war, verließ das junge Paar Russland und wanderte nach Deutschland aus. In München brachte der Vater, ein Bohemien, der sich wenig um die täglichen Dinge des Lebens scherte, seine große Familie als Kunstmaler, später auch als Hypnotiseur und Magnetiseur eher schlecht als recht durch. (14 Kinder soll Sonjas Mutter geboren haben, wovon acht die frühe Kindheit überlebten.) Bereits als fünf- oder sechsjähriges Mädchen will sie das Schachspiel im Kreise ihrer Familie erlernt haben, vor allem ihr Vater war ein begeisterter Schachspieler. Als Sonja allerdings Jahre später (laut „Asi juega una mujer ...“ im Alter von 12 Jahren) mit ihren älteren Brüdern den Münchner SC (der laut W. Müller schon 1931 im „Café Stefanie“, Amalienstr. 25, vormals 14 – im Volksmund „Cafe Größenwahn“ sein Vereinslokal hatte) aufsuchen wollte, war der Vater strikt dagegen: (Bild 3)

Café Stefanie
Bild 3: Café Stefanie

„Ein junges Mädchen, das mit den Männern Schach spielen will – völlig unmöglich“.

Sonja Graf sah hingegen im Schachspiel die einzigartige Chance, sich über die einer jungen Frau auferlegten gesellschaftlichen Schranken hinwegzusetzen und zugleich den unseligen familiären Zwängen zu entfliehen. Dazu gibt ein Text von Beth Cassidy aus dem British Chess Magazine 1964, S. 206 sehr bunte Details wieder (Text H). Die Geschichte ihrer Flucht aus der Familie mit 16 Jahren (?) und die Hintergründe eines möglichen Strafprozesses gegen den Vater einer Freundin (wegen Inzest-Handlungen), der in „Yo soy Susann“ erwähnt wird, blieben bislang ungeklärt. Angeblich wurde die junge Susanna wegen Falschaussage unter Eid belangt, möglicherweise ging es aber auch um andere strafrechtlich relevante Delikte der Minderjährigen, die sich im Münchner Künstler- und Vergnügungsviertel Schwabing herumtrieb. Die biographischen Fakten belegen die Einweisung ins katholische Fürsorgeheim München-Thalkirchen (Maria- Einsiedelstraße 12) am 26.11.1926, also mit fast 18 Jahren (Text I). Im September 1927 wurde Susanna Graf fern der Heimat in dem seit 1923 im Barockschloss Kirchschönbach (bei Kitzingen) befindlichen Erziehungsheim der „Zeller Schwestern“, einem Seitenzweig der Oberzeller Franziskanerinnen, untergebracht. Von dieser Zeit bei den Ordensschwestern weiß „Yo soy Susann“ ausführlich zu berichten, sogar die Namen der „guten“ und „bösen“ Schwestern, Gunthildis (Leykauf, 1897-1976) und Chrysologa – im Buch Grisologa (Schönfelder, 1894-1973) erwiesen sich als authentisch. Aus dem Marienhaus Kirchschönbach erfolgte die offizielle Entlassung am 14.01.1930, somit kurz vor dem Tod Ihrer Schwester Helene; Susanna Graf war schon zuvor (01.11.1929) wieder bei ihren Eltern in München gemeldet (bis März 1931).

Wann genau sie als Sonja Graf mit dem Schachspiel begann, blieb unklar; natürlich wurde die Männerwelt rasch auf das durchaus attraktive Fräulein aufmerksam. Ein auf zehn Partien geplanter Wettkampf ab 27.05.1931 mit einer anderen Münchner Amazone, Frl. Johanna Müller, endete beim Stande von 3-0 für Sonja Graf mit dem Rückzug ihrer (laut Sonja) entnervten Gegnerin. Die offizielle Version aus der Bayerischen Schachzeitung (im Bayerischen Staatsanzeiger vom 21./22. Juni 1931) lautet:

„Vom Damenschachklub München erhielten wir zur Veröffentlichung folgende Mitteilung: Der Rücktritt des Fräuleins Müller im Wettkampf Müller-Graf erfolgte aus Veranlassung des Damen-Schachklubs. Dieser ist nach wie vor der Meinung, dass ein Wettkampf um die Münchener Damen-Meisterschaft von Privatpersonen nicht veranstaltet werden kann ...“ (Gefunden von W. Müller).

Siegbert Tarrasch
Bild 4: Siegbert Tarrasch

Im Laufe des Jahres 1931 machte man Sonja auch mit dem „Lehrmeister der Schachwelt“, Dr. Siegbert Tarrasch (Bild 4), bekannt. Dieser residierte stolz und ziemlich unnahbar fast jeden Nachmittag im Rats-Café des Hotels Peterhof am Marienplatz, seit 1923 der „Tarrasch-Club“. Bald gehörte Sonja Graf zum erlauchten Kreis jener Schachjünger, die wie der Studienrat Hermann Geist und Dr. Eduard Dyckhoff einen Stammplatz am Spieltisch des siebzigjährigen Großmeisters zur gemeinsamen Analyse einnehmen durften; davon weiß später (1961) die Chronik des Münchner SC zu berichten. Offenbar wurde Tarrasch in seinen letzten Lebensjahren (+ 17.02.1934), vor allem aber Dyckhoff zum Mentor der äußerst talentierten Spielerin. Die Kombinationsgabe der jungen Dame schien es dem Altmeister angetan zu haben, denn es finden sich wiederholt taktische Wendungen aus deren Spielpraxis in Tarraschs Schachzeitung: Im 1. Jahrgang (1933) die Aufgaben Nr. 75, 121 und 137, dann Nr. 3, 15 und 27 im 2. (und letzten) Jahrgang. Bereits am 26. Juli 1931 durfte Sonja Graf im Bayerischen Rundfunk eine Abhandlung Dyckhoffs zum „Damenschach“ vortragen, der Text findet sich u.a. in der DSZ 1932, S. 33-37. Ebenfalls eingebunden war sie in die „Geistige Winterhilfe, Abteilung Schach“ zur Bekämpfung der geistigen Not der Arbeitslosigkeit (DSBl. 1931, S. 331 f.); in Dyckhoffs Bericht über „Soziales Schach“ (Tarraschs SZ Nr. 5 1932 S. 67) wird erwähnt:

„ ... Welche Ausdauer und Andacht, wenn Fräulein Graf in den Cenovis-Werken (eine Nährmittelfabrik – W. Müller) jeden Mittwoch am Demonstrationsbrett ihren 40 sie vergötternden „Jungs“ geschlagene 3 Stunden lang Theorie und schöne Partien vorführte!“

Belegt (wiederum in der Bayerischen Schachzeitung, gefunden von W. Müller) ist die Teilnahme von Sonja Graf am Hauptturnier III der Münchener Schachmeisterschaften als Vertreterin des Münchener SC im Herbst 1931.

Rudolf Spielmann
Bild 5: Rudolf Spielmann

Ein weiterer öffentlicher Auftritt wurde sicherlich zu einem Spektakel in der Münchner Schachszene: Am 13.02.1932 gab der österreichische Großmeister Rudolf Spielmann (Bild 5) eine Simultanveranstaltung an 31 Brettern (+14, -5, = 12) und wurde von Sonja Graf, die mit Weiß spielte, überzeugend besiegt. Spielmann war tief beeindruckt, denn als er kurz darauf in der Tijdschrift van den Koninklijken Nederlandschen Schaakbond, März 1932 Tarrasch zum 70sten Geburtstag würdigte, ging er auch auf die durch dessen Bemühungen enorm gewachsene Spielstärke der Schachamateure und insbesondere auf die keineswegs aus Galanterie zustande gekommene Niederlage gegen die weibliche Schach-Koryphäe ein.

Sonja Graf gelang es dann rasch, ihre außerordentliche Begabung im Vergleich mit ihrer weiblichen Konkurrenz unter Beweis zu stellen: Als Spielmann auf der Rückreise am 12.04.1932 erneut in München (im Café Gasteig – W. Müller) simultan spielte und trotz Revanche-Gelüsten gegen Sonja die zweite Partie verlor, sollte eine von ihrem Mentor Tarrasch initiierte Einladung zum Paula Wolf-Kalmar - Gedenkturnier nach Wien für die junge Münchnerin nicht ausbleiben. Dieses Damenturnier gewann sie im Juni 1932 in eindrucksvoller Weise mit 6,5 Punkten aus 8 vor der Österreicherin Gisela Harum (Bild 6). Die Wiener Schachzeitung (S. 219) schrieb enthusiastisch:

Paula Wolf-Kalmar Gedenkturnier 1932
Bild 6: Paula Wolf-Kalmar Gedenkturnier 1932

„Die markanteste Erscheinung des im Schachverein Hietzing ausgetragenen Damenturniers war die Persönlichkeit der Siegerin, Fräulein Sonja Graf. Aus Rußland stammend, lebt Sonja Graf in München und hat sich unter der schachlichen Führung von Dr. Tarrasch und Dr. Dyckhoff zu einer angesehenen Spielerin entwickelt. Wie sehr der gute Ruf, der ihr vorausging, berechtigt war, hat sie in Wien durch ihren einwandfreien Sieg erwiesen. Mit der Weltmeisterin Miss Vera Menchik darf man sie wohl noch nicht vergleichen; die schachliche Entwicklung von Fräulein Graf ist aber noch keineswegs abgeschlossen und bei ihren guten Anlagen ist es durchaus möglich, daß ihre Spielstärke die hohe Stufe der derzeitigen Weltmeisterin in absehbarer Zeit erreichen wird. ...“

Zu diesem ersten Aufenthalt in Wien äußert sich über 30 Jahre später Hans Kmoch in sehr aufschlussreicher Weise – sein „kleiner Rückblick“ auf das Damenschach (Text J) erschien in der Deutschen Schachzeitung 1973 (Heft 2, S. 56-59), praktisch mit dem Todestag des in New York lebenden Wiener Meisters (+ 13.02.1973).

Auszug aus Hans Kmoch: Damenschach - Ein kleiner Rückblick
Text J: Auszug aus Hans Kmoch: Damenschach - Ein kleiner Rückblick

Die Prognose der „Wienerin“ wird uns noch ausführlich beschäftigen, doch vorerst erhielten die hoch gesteckten Erwartungen der frisch gebackenen Turniersiegerin in ihrer Heimatstadt einen kleinen Dämpfer: Beim 13. Kongress des Bayerischen Schachbundes (16.-23. Juli 1932) belegte Sonja Graf im Damenturnier mit 6,5/8 eine halben Punkt hinter der Siegerin Frau Maja Maintzer (1899-1960, geborene Sappel, spätere FrauSchlemmer, deutsche Vizemeisterin 1943 – W. Müller) nur den für sie wohl enttäuschenden 2. Platz. Dahinter folgte das „abgeschlagene Feld“ mit 4,5 Punkten, angeführt von Friedl Benzinger, später als Friedl Rinder über lange Jahre Deutschlands Spitzenspielerin (DSBl. 1932, S. 248).

Dieser Rückschlag konnte Sonjas Entschluss, Deutschlands erste Berufs-Schachspielerin zu werden, nicht mehr erschüttern. Bald versuchte sie sich erfolgreich als Simultanspielerin, wenn dabei ihr Marktwert natürlich nicht an den eines Großmeisters heranreichte. So findet sich in der Chronik des Starnberger Schachklubs die launige Notiz: „Der für den 23.10.1932 geplante Simultankampf mit Fräulein Sonja Graf, die anbot, gegen 10 nicht so starke Spieler für 15-20 Reichsmark zu spielen, wurde vom Verein abgesagt.“

Simultan Leeuwarden 1933
Bild 7: Simultan Leeuwarden 1933

Im Sommer 1933 erhielt sie die Chance, auf eine Tournee durch Norddeutschland und die Niederlande zu gehen (Wiener SZ 1933, S. 300). In unserem bereits vor Euwes WM-Sieg für Schach begeisterten Nachbarland fanden ein Schaukampf mit Dr. Adolf Olland (1-1) und 7 Simultanvorstellungen statt; insgesamt gewann Sonja Graf 84 Partien, verlor 42 und remisierte 37, erzielte somit fast 63%. Ihre Auftritte beeindruckten nicht nur wegen der beachtlichen Resultate, die sie gegen eine rein männliche Gegnerschaft errang (Bild 7). In Hamburg kamen damals 3 Simultankämpfe zustande (+42, -14, =12; also knapp 73%), außerdem besiegte sie Ende 1933 die Hamburger Spitzenspielerin Frau Ehlers-Giesecke mit 5,5-0,5 entscheidend, nachdem ein erstes Match mit 2-2 endete (Schach-Echo Dezember 1933, S.15). Damit galt Sonja Graf als stärkste deutsche Schachspielerin, eine offizielle deutsche Damenmeisterschaft wurde damals nicht ausgetragen. Ihre Spielstärke stellte sie aber mit Vorliebe in Konkurrenz mit dem „starken Geschlecht“ unter Beweis – in „Asi juega una mujer ...“ widmet sie der geistigen Auseinandersetzung der Geschlechter am Schachbrett ein ganzes Kapitel. Etliche ihrer Gewinnpartien aus Münchner Turnieren finden sich in den deutschsprachigen Schachzeitungen, so aus dem Vormeister-Turnier des Schachclubs Anderssen-Bavaria (Sonja Graf belegte als einzige teilnehmende Dame Platz 2 mit 6,5 aus 9.) die Partie gegen Pesserl (Wiener SZ 1934, S. 34), der Dr. Dyckhoff folgenden Abschlusskommentar anfügt: „Ihr Stil ist kühn und männlich, manchmal noch zu wild, aber doch in letzter Zeit geschlossener und gesünder.“

In der Münchner Stadtmeisterschaft 1933/34 belegte Sonja Graf mit 6 Punkten aus 15 Partien Platz 10/11, erster wurde Zeuner mit 11,5 Punkten (DSBl. 1934, S. 77). Dieses Resultat mag eher bescheiden klingen, man mache sich aber bewusst, dass gegen die teilnehmende bayerische Schachelite außer Vera Menchik keine von Sonjas Zeitgenossinnen hätte auch nur annähernd bestehen können. Ihre glänzend gewonnene Partie gegen Kohler, ebenfalls kommentiert von Dyckhoff, findet sich im Schach-Echo 1934 (S. 201) und im bereits erwähnten Magyar Sakkvilag. Alfred Brinckmann widmete sich in den Deutschen Schachblättern 1933 (S. 327) ausführlich den Erfolgen der Münchnerin und bemühte sich um eine Charakteristik ihres Spielstils:

„ ... hat sich rasch nach vorne gearbeitet und darf heute unangefochten als deutsche Spitzenspielerin gelten. ...

Sie spielt sicher, doch initiativ und kann sich auf gute Eröffnungskenntnisse berufen. Die Partien, die wir bisher sahen, zeugen von Kraft und einer Unternehmungslust, die manchem Vertreter des stärkeren Geschlechts wohl anstehen würde.“

Danach verstieg sich Brinckmann in eine grundsätzliche Bewertung des Frauenschachs,die den Lesern nicht vorenthalten sei:

„ ... Daß die Frauen es zu Leistungen zu bringen vermögen, sofern man ihnen nur Zeit zur Entwicklung ihrer Kräfte lässt und den Ehrgeiz in ihnen wachruft, ist hinlänglich erwiesen. Wenn sie in ihren durchschnittlichen Erfolgen nicht völlig auf gleicher Höhe mit ihren männlichen Kollegen stehen und stehen werden, so darf ihnen das nicht zum Nachteil angerechnet werden. Ist es doch die natürliche Folge jener Zartheit und Milde, die der Himmel den Frauen als schönste Gabe in den Schoß gelegt hat.“

Es folgte eine ausführliche Analyse der bei einem Mannschaftswettbewerb in Hamburg gewonnenen Schwarzpartie gegen Rother.

Überhaupt hielt sich Sonja Graf ab Ende 1933 mit Vorliebe in der Hansestadt auf, denn ihr sagte die liberale und weltoffene Lebensart im Norden mehr zu; München war ja mittlerweile zur „Hauptstadt der Bewegung“ geworden. Zudem fand sie im Hamburger Schachmäzen Friedrich Ladendorf einen Förderer, der ihr dort eine Bleibe bot und bei der Organisation von Wettkämpfen und Simultan-Veranstaltungen behilflich war, zudem fand sich dort auch ein „Schatz“ namens Wilhelm (Guillermo in „Yo soy Susann“).

Sonja Graf und Max Euwe
Bild 8: Sonja Graf und Max Euwe

Bei Zonenausscheidungsturnier von Oberbayern (15. bis 28. Februar 1934) wurde Sonja Graf mit nur einem halben Punkt aus 11 Partien abgeschlagen Letzte, sicherlich ein Grund, sich vorerst ins westliche Ausland zu begeben. Im März 1934 hatte die Schachmeisterin, vermittelt durch den in der Damenwelt geschätzten Dr. Max Euwe (Bild 8), in Amsterdam die unverhoffte Gelegenheit zu einem inoffiziellen, also nicht als Weltmeisterschafts-Kampf deklarierten Schaukampf über 4 Partien mit der amtierenden Damen-Weltmeisterin Vera Menchik, die vom ungarischen Großmeister Geza Maroczy zur auch unter ihren männlichen Kollegen respektierten Meisterspielerin ausgebildet worden war (Bild 9). Am 21.03.1934 gewann Sonja sensationell die erste Partie mit den schwarzen Steinen in überlegenem Stil; wahrscheinlich hatte die Weltmeisterin ihre Gegnerin völlig unterschätzt. Max Euwe kommentierte diese Partie (und die auch zweite) in der Tidschrift van den Koninklijken Nederlandschen Schaakbond, April 1934:

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D3221.03.1934
Vera Menchik mit Géza Maróczy, London 1932
Bild 9: Vera Menchik mit Géza Maróczy, London 1932

Doch der klare Auftakterfolg erwies sich als „Eintagsfliege“, lediglich in der zweiten Partie ergab sich noch eine scharfe, zeitweise auf Messers Schneide stehende Auseinandersetzung „lange gegen kurze Rochade“, in der es Sonja Graf mit Weiß jedoch nicht gelang, ernsthafte Drohungen aufzubauen und sie in eine hoffnungslose Stellung geriet. In hoher Zeitnot spielte die offenbar „geschockte“ Vera Menchik auf „Nummer Sicher“ und bot Damentausch an, anstatt entscheidend zum Angriff überzugehen. Weiß gelang es im Eifer des Gefechtes aber nicht, die sich unvermittelt bietende Remischance wahrzunehmen. Danach musste Sonja Graf, wohl auch geschwächt durch eine fiebrigeErkältung, die klare Überlegenheit Menchiks anerkennen. In der dritten Partie stellte Graf in Zeitnot in völlig ausgeglichener Stellung die Qualität ein, die vierte verlor sie sang- und klanglos. Trotzdem machte dieser kurze Wettkampf die Schachwelt darauf aufmerksam, dass der tschechisch-englischen Weltmeisterin eine ernsthafte Konkurrentin erwachsen war, und es wurden erste Pläne für einen offiziellen Wettkampf in London geschmiedet. Dass dies durchaus berechtigt war, demonstrierte die wieder genesene Sonja Graf in den nachfolgenden Osterwettkämpfen der V.A.S. (Vereenigd Amsterdamsch Schaakgenootschap). Sie blieb in ihrer Hauptgruppe in der Auseinandersetzung mit niederländischen Spitzenspielern hinter N. Cortlever (2,5/3) mit 2 Punkten ungeschlagen. Vera Menchik kam nur auf 50%, da sie gegen H.W. Felderhof in gewonnener Stellung ein zweizügiges Matt erlaubte.

Voller Eindrücke und Pläne kehrte Sonja Graf nach Hamburg zurück, aber hier sollte sich eine herbe Ernüchterung für sie ergeben. Ein eigens arrangierter Wettkampf mit dem in den dreißiger Jahren als „Schachkünstler“ durch die deutschen Lande reisenden Paul Heuäcker endete mit einem Fiasko. Das vernichtende „0-6“ ging durch die deutsche Schachpresse – Kommentare hielt man für überflüssig (U.a. DSZ 1934, S. 262).

Damit waren die „Preise“ in Deutschland für Sonja Graf vorerst gründlich verdorben, denn Heuäcker gehörte kaum zur deutschen Spitzenklasse. Aber er ließ sich aufgrund seines quicklebendigen Temperaments und seiner lockeren Lebenseinstellung nicht in die psychologisch ungünstige Situation eines Geschlechterkampfes drängen, sondern spielte konsequent seine größere Routine und Spiel- bzw. Nervenstärke aus.

Für Sonja wurden nun die Lebensumstände in Deutschland immer schwieriger zu ertragen. Die Nazi-Herrschaft nahm zunehmend auf die Schachorganisationen Einfluss, aufgrund der slawischen Abstammung – oft bezeichnete sie sich als „Zigeunerin“- und ihres emanzipierten Lebensstils entsprach sie natürlich nicht dem Frauenideal der national-sozialistischen Parteigänger und konnte somit kaum Unterstützung durch die Schachorganisation erwarten. Außerdem widerstrebte die in Deutschland dominierende politische Richtung ihrer eigenen kosmopolitischen Einstellung; mit großem Unbehagen musste sie die Ächtung der vormals hoch angesehenen jüdischen Schachspieler und Funktionäre in den Vereinen ab 1933 miterleben.

Sonja Graf
Bild 10: Sonja Graf

So kam es Ende 1934 zur Übersiedlung nach London, wobei man von einem aufreibenden Nomadenleben in Hotels und aus den Koffern ausgehen muss, wenn man die folgenden vier Jahre ihres Lebens anhand der Turnierberichte und ihrer eigenen Schilderungen rekonstruiert. Sonja Graf liebte das Reisen, sie war praktisch ständig wie die Schauspielerin einer Wanderbühne auf Tournee. Den Auftakt bildete die Teilnahme am Neujahrsturnier in Hastings 1934/35; Sonja sorgte dort schon rein von der Optik für Aufsehen, in ihrem typischen Outfit wurde sie auf derselben Seite wie Michail Botwinnik im ehrwürdigen British Chess Magazine abgelichtet (Bild 10).

Ihr Resultat im Major-A-Turnier war mit 3,5/9 (Platz 8/9) nicht sensationell, den ersten Platz belegte Dr. Adolf Seitz mit 7 Punkten.

Viel besser lief es für Sonja Graf beim Osterkongress 1935 im Seebad Margate, sie qualifizierte sich im Primary B des „Reserves-Turnier“ mit einem geteilten 2. Platz hinter F. van Seters mit 3/5 für die Section A, in der sie dann einen ehrenvollen Platz 4 mit 2,5/5 hinter A. Eva und G. Koltanowski (Bild 11, Text K), punktgleich mit dem jungen Letten A. Koblenz belegte. Nach meiner Einschätzung ist dies das beste Resultat, das Sonja Graf in einem reinen Männerturnier erzielte, es zeugte von der Spielstärke eines Meisters.

Sonja Graf
Bild 12: Sonja Graf

Insgesamt waren Sonja Grafs Ergebnisse in den englischen Turnieren im Vergleich zur zumeist in der höheren Meisterklasse antretenden, sehr solide spielenden Vera Menchik eher wechselhaft. Im Juli 1935 spielten beide gemeinsam im Major Open von Great Yarmouth: Vera Menchik siegte in der direkten Begegnung und wurde mit 7/11 hinter S. Reshevsky und A. Seitz Dritte, Sonja Graf teilte sich mit 5 Punkten den 7. Platz mit B. H. Wood. Eine kuriose Episode aus diesem Turnier machte die Runde durch die Schachpresse (z.B.: DSZ 1935, S.228 f) und verschaffte Sonja den Ruf bemerkenswerter Fairness: Gegen den Leipziger Sammi Fajarowicz (Bild 12, Text L) wurde die Abbruchstellung unkorrekt notiert, so dass der weiße a-Bauer bei der Wiederaufnahme auf a2 statt auf a3 landete. Schwarz (Sonja Graf) übersah dies und versäumte auch einen verborgenen Gewinnweg, die Partie endete schließlich unentschieden. Später stellten Zuschauer den Irrtum fest; nach den geltenden Regeln hätte die Partie ausgehend von der korrekten Abbruchstellung wiederholt werden müssen. Um den armen Fajarowicz nicht zu benachteiligen, der sich in der gemeinsamen Analyse nach Ende der Partie eifrig bemüht hatte, den Gewinn für Schwarz aufzuzeigen, verzichtete Sonja Graf auf die zweite Chance und das Remis galt.

Partie mit Sammi Fajarowicz
Text L: Partie mit Sammi Fajarowicz

Beim Neujahrsturnier 1935/36 in Hastings erwies sich die Teilnahme in der Gruppe 2 der Premier Reserves als zu anspruchsvoll für ein vorzeigbares Resultat: Mit 2,5 aus 9 landete Sonja Graf auf dem geteilten letzten Platz, allerdings in einem sehr eng gestaffelten Feld, denn auf Rang 1 bis 5 lagen Prins, Senton, Mieses, Rilton Morry und Rey Ardid, alle punktgleich mit 5,5 Zählern.

Nach einem Jahr intensiver Turniertätigkeit und zahlreichen Simultan-Veranstaltungen in Großbritannien war Anfang 1936 ihr Ehrgeiz ungebremst, endlich um die Damen- Weltmeisterschaft zu ringen. Als sehr betrüblich hatte sie es empfunden, dass der Großdeutsche Schachbund aus politischen Gründen auf eine Teilnahme an der Schacholympiade in Warschau 1935 verzichtete und sie somit der Chance beraubt wurde, sich im Damenturnier erneut mit Vera Menchik zu messen. Doch gleichzeitig war Sonja Graf wohl bewusst geworden, dass ihr noch immer das nötige Rüstzeug für eine erfolgreiche Auseinandersetzung mit der Dominanz der Weltmeisterin fehlte. Im Frühjahr 1936 begab sie sich nach Spanien, um in Barcelona mit dem dort lebenden belgischen Meisterspieler George Koltanowski zu trainieren. In Mollet gewann sie einen kurzen Wettkampf gegen die katalanische Vorkämpferin Montserrat Puigcercos mit 3-1 (Bild 13), dann folgte eine große Simultantour durch spanische Städte. Ihre dabei gesammelten Eindrücke schilderte die sich ihrer Ausstrahlung bewusste und für zwischenmenschliche Erfahrungen - sprich Flirts und Liebschaften - aufgeschlossene Sonja mit „sattem Kolorit“. Mittlerweile gab sie sich betont maskulin, Koltanowski verriet in CHESS, April 1936, S. 301 süffisant, dass sie sich bei einem Herrenschneider eine Matrosen-Uniform für einen Maskenball anfertigen ließ. Amüsiert schreibt Sonja Graf darüber, wie sie als hübscher junger Mann mit Schnurrbart etliche Verehrerinnen gewinnt, dann aber durch den Tanz mit einem Kavalier für Aufruhr sorgt. Ob der zahlreichen Vergnügungen in Begleitung des Ehepaares Koltanowski und ihrer Begeisterung für das spanische Nachtleben kommen dem Chronisten gewisse Zweifel, ob Schachtraining tatsächlich im Vordergrund dieser Spanienreise stand.

Wettkampf mit Montserat Puigcercos
Bild 13: Wettkampf mit Montserat Puigcercos

Mit gewissem Trennungsschmerz kehrte sie im April 1936 ins „stockkonservative“ England zurück und erreichte beim Osterkongress in Margate mit 4 Punkten (aus 9) erneut ein ansprechendes Ergebnis in der Gruppe B der Master-Reserves; auf den Plätzen1 bis 3 landeten V. Buerger, E. Klein und A. Koblenz mit je 7,5/9.

Sonjas intensive, aber auch Kräfte zehrende Vorbereitung trug reiche Früchte, denn beim internationalen Damenturnier auf dem Semmering (8.-15. Juli 1936 im Panhans-Hotel) war sie auf dem Zenit ihres Könnens und stellte ihre Überlegenheit zur restlichen weiblichen Konkurrenz klar unter Beweis: Sie erzielte 10,5/11, auf Platz 2 abgeschlagen die Italienerin C. Benini mit 7 Punkten, dahinter 3./4. G. Harum aus Österreich und C. Roodzant aus den Niederlanden je 6,5 Punkten. Einzig gegen die Polin R. Gerlecka stand Sonja Graf auf Verlust; sicherlich bedauerlich, dass Vera Menchik ihre Teilnahme an diesem Kräftevergleich kurzfristig absagte. (Bild 14, Text M)

Nottingham 1936 Gruppe mit Graf und Menchik
Bild 15: Nottingham 1936 Gruppe mit Graf und Menchik

In ihrem Ehrgeiz und Spieleifer gönnte sich Sonja Graf keine Erholungspause, bereits im August 1936 trat sie in Nottingham im parallel zum großartig besetzten Masters Tournament ausgetragenen Major Open Section A an. Dort landete sie immerhin auf Platz 6 mit 5 Zählern aus 10 Partien, darunter ein erneuter Sieg gegen den Wiener Meisterspieler Ernst Klein (Sieger S. Landau 7,5/10 vor E. Klein mit 7 Punkten). Vera Menchik spielte in Section B, die Weltmeisterin erreichte lediglich 4,5 Punkte aus 11 Partien und damit Platz 8 (Sieger J. Cukierman und A. Reynolds mit je 8,5/11), im indirekten Duell der beiden Konkurrentinnen sicherlich ein kleiner Misserfolg (Bild 15).

Allmählich war deutlich geworden, dass die sportlichen Rivalinnen Menchik und Graf nicht unbedingt als „beste Freundinnen“ gelten konnten. Zudem gewinnt man den Eindruck, dass Ende 1936 die Deutsche nicht mehr uneingeschränkt in der Gunst der englischen Schachpresse stand. Vor allem Baruch H. Wood äußerte sich in CHESS Juni 1937, S. 348 f. recht kritisch zu Sonja Grafs bisherigen Leistungen und ihrem Auftreten, seine aufschlussreichen Ausführungen seien hier auszugsweise wiedergegeben:

„... sie (Sonja Graf) ist grundsätzlich nicht in der Lage, “ruhig“ zu spielen. Kann sie in ein Endspiel mit zwei Mehrbauern abwickeln, muss sie trotzdem kombinieren und nimmt Risiken auf sich, die ihrem Gegner unnötige Chancen einräumen.“

Auch der direkte Vergleich mit der Weltmeisterin fällt eher ungünstig für die Herausforderin aus:

Zeichnung von NOSS
Bild 16: Zeichnung von NOSS

„ ... Verfolgt man eine Partie von Vera Menchik, so findet sich meist eine materiell ausgeglichene, geschlossene Stellung, die geduldige strategische Manöver erfordert. Auf Miss Grafs Brett stößt man hingegen auf eine ungewöhnliche materielle Konstellation wie Dame und Turm gegen vier Leichtfiguren und eine Stellung mit jeglichem Hang zum Bizarren. Vom Temperament her könnte der Gegensatz nicht größer sein: Sonja Graf ist die Lebenslustige und Umtriebige, Miss Menchik die Ruhige und Häusliche. Sonja Graf ist Kettenraucherin, in den seltenen Pausen zwischen zwei Zigaretten kaut sie unentwegt Süßigkeiten. Ist sie nicht am Zug, wieselt sie durch den Turniersaal, tauscht mit jedermann ein paar Worte aus; am Brett zerwühlt sie ihr Haar, ihr Gesicht wirkt hohlwangig und besorgt. (Bild 16) Ihre gesamte Erscheinung zeugt von jemandem, der Schmerzen erleidet. Sie patzt – und erzielt Schönheitspartien. Miss Menchik hingegen sitzt, pausbackig und gelassen, die Arme vor dem Körper verschränkt, für Stunden am Brett, ohne das ein Muskelzucken zu erkennen wäre. Nie sah man sie rauchen, ihr Spiel weicht selten vom beständigen Standard ruhiger Solidität ab. ...“

Immerhin räumte B.H. Wood Sonja Graf mehr als nur eine Außenseiter-Chance im bevorstehenden Match ein: 3:2 für Menchik lautete seine Prognose, es sollte jedoch ärger für Sonja kommen.

Zurück zur Chronologie der Ereignisse des Jahres 1937: Sonjas Resultat beimNeujahrsturnier 1936/37 in Hastings in der Gruppe A der Premier Reserves war mit 3,5 aus 9 nicht überragend. Sie landete auf Platz 7-9; Sieger wurde L. Prins (7 Punkte), dahinter mit A. de Groot (6,5 Punkte) ein weiterer Niederländer. Sonja erzielte ein glückliches Remis gegen de Groot, ihr Sieg gegen den Belgier Sapira sorgte für Turbulenzen, das war wohl nichts für schwache Nerven.

Inzwischen konnte die den Vergnügungen des Lebens nicht abgeneigte Sonja Graf dem etwas steifen Umgang in England kaum noch Reize abgewinnen, in Hastings fühlte sie sich in der muffigen Atmosphäre der angestaubten Hotels gelangweilt – kein Tanz und allzu frühe „last orders“ an der Bar ... (Tijdschrift van den Koninklijken Nederlandschen Schaakbond Januar 1937, S. 11). Auch mag eine unglückliche Beziehung zu einem (verheirateten?) Mann für ihre Entscheidung, England vorerst zu verlassen, eine Rolle gespielt haben.

Vertragsunterzeichnung Menchik - Graf 1937
Bild 17: Vertragsunterzeichnung Menchik - Graf 1937

Im Februar 1937 gewann Sonja Graf einen kurzen Wettkampf mit der Niederländerin Catharina Roodzant in Rotterdam locker mit 3,5-0,5, danach reiste sie nach Wien, um dort im März am S.R. Wolf-Jubiläumsturnier teilzunehmen. Sie belegte einen wenig sensationellen 7. Platz mit 5/11, Sieger wurde ganz überlegen Ezra Glass mit 10,5 Punkten, das Turnier war eher drittklassig besetzt (Wiener SZ 1937, S. 97 ff.). Da nur 2 Partien pro Woche gespielt wurden, nutzte Sonja Graf die restliche Zeit zur Vorbereitung auf den für Sommer 1937 vereinbarten Weltmeisterschaftskampf mit Vera Menchik (Bild 17). Hierfür hatte sich der ihr wohlwollend verbundene Rudolf Spielmann gewinnen lassen, wobei fraglich erscheint, ob der kränkelnde, mit Existenzängsten belastete Wiener Großmeister der Richtige war, um Sonja ihre Defizite im Positionskampf und in der Eröffnungsbehandlung aufzuzeigen und sie für die harte Auseinandersetzung mit ihrer überlegenen Konkurrentin zu rüsten.

Auf jeden Fall wäre Sonja Graf gut beraten gewesen, ihr Turnierpensum vor diesem extrem wichtigen Match unbedingt einzuschränken, stattdessen spielte sie Ende März wieder beim Osterkongress in Margate (Master-Reserves Gruppe B, Sonja Graf erreichte 3,5/9, geteilte Sieger S. Landau und H. Golombek mit je 7 Punkten.) und folgte ab Ende April 1937 der Einladung zu einem stark besetzten Turnier in Prag (Bild 18), wo sie mit 2,5 aus 11 auf einem enttäuschenden vorletzten Platz landete. Erster wird der in Höchstform spielende Paul Keres mit 10 Zählern, der ihr in der letzten Runde ein Remis erlaubte. „Für Sonja Graf war dieses Turnier die erste wirklich größere Prüfung in internationalem Rahmen, sie spielte ideenreich und nur etwas zu leichtsinnig.“ (So aufmunternd formulierte es die Wiener SZ 1937, S. 133.). Objektiv startete sie katastrophal mit 0 aus 7, dabei vergab sie gegen Karl Gilg zuerst den Gewinn, dann gar das Remis durch Dauerschach. Immerhin kam sie in den letzten Runden noch zu Punkten, für den prächtigen Sieg gegen Prokop erhielt sie einen Schönheitspreis. Eine zeitgenössische Karikatur aus Šachový týden 1937 (Heft 9, 20. Mai) zeigt Sonja Graf im Kreise ihrer elf männlichen Konkurrenten (Bild 19).

Bericht und Bild Vera Menchik
Bild 20: Bericht und Bild Vera Menchik

Das Kapitel des mit Spannung erwarteten Damen-Weltmeisterschaftskampfes (26. Juni bis 16. Juli 1937 im Grand Hotel Panhans auf dem Semmering bei Wien) ist rasch erzählt (Bild 20), denn leider erfüllten sich die Vorhersagen all jener Fachleute, die einen klaren Sieg von Vera Menchik erwartet hatten. Sonja Graf unterlag mit +2 = 5 – 9; also deutlich 4 1⁄2 zu 11 1⁄2, immerhin gelang ihr mit Weiß ein 4 zu 4, die Schwarzbilanz gleicht mit 1⁄2 zu 7 1⁄2 einem Debakel.

Symptomatisch für eklatante Mängel in ihrer Spielauffassung erscheint mir die 14. Partie; Sonjas unzureichende Versuche, mit rein taktisch motivierten Manövern ihre schwache Eröffnungsbehandlung wettzumachen, erlauben der abgeklärt agierenden Gegnerin einen wunderschönen Schlussakkord:

-
D461937

Man kann sich vorstellen, mit welchen Gefühlen Sonja Graf direkt im Anschluss an diese eindeutige Schlappe kurz noch einmal in ihre alte Heimat München zurückkehrte und dann zum Damenturnier nach Stockholm reiste.

Der von der FIDE beschlossene Spielmodus wurde allgemein kritisiert; zu drastisch war das Spielstärke-Gefälle unter den 26 Teilnehmerinnen, die im 14-Runden-System vom 31. Juli bis 14. August 1937 in der schwedischen Hauptstadt um die Weltmeisterschaft rangen. Das Turnier im Rahmen der Schacholympiade wurde zu einem erneuten Triumph von Vera Menchik, die mit 14 Siegen das Feld völlig beherrschte. Dahinter landete die Italienerin Clarice Benini etwas überraschend mit 10 Zählern auf Platz 2, die konditionell geschwächte Sonja Graf musste sich mit der jungen Milda Lauberte aus Lettland mit 9 Punkten den 3. und 4. Platz teilen. Sonja wirkte laut zeitgenössischen Berichten in der schwedischen Presse nervös und fahrig, fast will man glauben, dass sie mit Gewalt das schlechte Resultat vom Semmering vergessen machen wollte. In einigen Partien versuchte sie, mit der Brechstange zum vollen Zähler zu gelangen. Hier ihre Einzelresultate in der Reihenfolge der 14 Runden:

  • Graf - Olga Menchik 1-0;
  • Graf - Bain 1-0;
  • Lauberte - Graf 0,5 (Hier stand Sonja bei Abbruch schlecht, die junge Lettin machte aber einen fehlerhaften Abgabezug, der zur sofortigen Niederlage führte. Deshalb bettelte Milda unter Tränen und mit fadenscheinigen Argumenten ums Remis, was Sonja ohne Wiederaufnahme der Partie akzeptierte. Diese in ihren Augen „Unsportlichkeit“ hatte Sonja Graf der Lettin nicht verziehen und ging auf deren Turniergebaren explizit in „Asi juega una mujer ...“ vertieft ein.);
  • Graf - Vera Menchik 0-1 (In guter Stellung opferte Sonja Graf unmotiviert eine Figur, die Weltmeisterin hatte wenig Mühe, dieses Opfer zu widerlegen.);
  • St. John - Graf 0-1;
  • Roodzant - Graf 1-0 (Eine Schlüsselpartie, symptomatisch für das überambitionierte Spiel von Sonja Graf. In einem leicht besseren Endspiel versuchte sie mit unzulänglichen Mitteln, doch noch zum Sieg zu kommen und verlor schließlich gegen eine Gegnerin, die sie ansonsten klar beherrschte.);
  • Graf - Gilchrist 1-0;
  • I. Andersson - Graf 0-1;
  • Graf - Benini 0-1 (Die überraschend starke Italienerin hatte den Sieg gegen Vera Menchik „verschenkt“ und schickte sich nun an, Sonja Graf den zweiten Platz erfolgreich streitig zu machen.);
  • Thomson - Graf 0,5;
  • Harum - Graf 0-1;
  • Graf - May Karff 0-1 (Diese vierte Niederlage ließ Sonja Graf endgültig aus dem Rennen um Platz 2 ausscheiden.);
  • Farago - Graf 0-1;
  • Graf - Flörow- Bulhak 1-0

(Turniertabelle: Bild 21).

Tabelle Damenturnier Stockholm 1937
Bild 21: Tabelle Damenturnier Stockholm 1937

Während Clarice Benini bei der Siegerehrung den Faschistengruß demonstrativ anbrachte, vermied Sonja Graf wie stets den Hitlergruß, wodurch ihr Beifall deutlich wohlwollender ausfiel als der für die höher platzierte Italienerin.

Nach diesen schweren Enttäuschungen verschwand Sonja Graf für etliche Monate aus der Turnierarena, laut „Yo soy Susann“ blieb sie fünf Monate in Schweden. Erst beim Osterkongress in Margate im April 1938 trat sie wieder in den Master-Reserves in Erscheinung und belegte in der mäßig starken Gruppe III mit 5 aus 9 einen gutenMittelplatz, die Gruppe wurde von den Niederländern G. Meyer und G. van Doesburgh mit je 6,5 Punkten gewonnen.

Danach wird ihr Lebensweg immer undurchsichtiger, offensichtlich verließ sie England erneut und lebte ab Anfang Juni 1938 in Warschau. (Über diesen Aufenthalt berichtet Tomasz Lissowski ausführlich in Quartely for Chess History Nr. 8, S. 223 ff., 2003.) (Text N....). Sonja Graf beteiligte sich dort an einem Turnier der 1. und 2. Kategorie, landete jedoch mit 6 aus 11 nicht in den Preisrängen. Ihren ursprünglich bis Ende Juli geplanten Aufenthalt dehnte sie aus, ihr sagte das muntere Leben in der polnischen Hauptstadt sehr zu, dies lässt sich zumindest „Asi juega una mujer ...“ entnehmen; explizit erwähnte sie den dort üblichen enormen Wodka-Konsum.

David Przepiorka
Bild 22: David Przepiorka

Ein Match gegen Henryk Mylnek, einen kaum zur polnischen Meistergarde zu zählenden Spieler der 1. Kategorie, verlor sie glatt mit 2,5-7,5; die polnische Schachpresse führte dies hauptsächlich auf die gute Selbstkontrolle ihres männlichen Kontrahenten zurück. Schließlich spielte Sonja Graf im Herbst 1938 in einem durch die Teilnahme der Großmeister Najdorf und Przepiorka (Bild 22) aufgewerteten lokalen Wettbewerb, der recht schleppend mit zwei Partien pro Woche ausgetragen wurde. Sonja Graf lag mit 5 aus 7 und einem beachtlichen Remis gegen Przepiorka noch gut im Rennen, als sie sich im November 1938 zur plötzlichen Abreise aus Warschau gezwungen sah. Aufgrund der zunehmenden politischen Spannungen zwischen Großdeutschland und Polen (Direkter Anlass war die so genannte „Polenaktion“, die Ausweisung von ca. 17000 polnischen Staatsbürgern jüdischen Glauben aus Nazideutschland im Oktober 1938.) wurde ihre Aufenthaltsgenehmigung trotz gegenteiliger Aussagen des Präsidenten des Schachvereins nicht verlängert. Sonja war zutiefst enttäuscht, fühlte sie sich doch als unpolitische Kosmopolitin und nicht als Großdeutsche. Völlig mittellos – ihre polnische Valuta musste sie beim Grenzübertritt abliefern – traf sie über Posen in Berlin ein. Sie kabelte nach England, um Geldmittel zu erlangen, rasch fand sie auch in der Berliner Schachszene Unterstützung. Drei Monate lang lebte sie in der glanzvollen Metropole, vor allem das dortige ausschweifende Nachtleben und um Geldeinsätze mit Kontra und Re gespielte Schachpartien, die häufig mehr als 60 Zuschauer fanden, begeisterten sie. Möglicherweise bemühte sie sich auch, für die erstmalig vom Großdeutschen Schachbund ausgeschriebene 1. Deutsche Damenmeisterschaft in Stuttgart zugelassen zu werden. (Das über Pfingsten 1939 ausgetragene Turnier gewann Friedl Rinder.) Laut offizieller Ausschreibung wurden nur solche Bewerberinnen akzeptiert, die seit mindestens dem 01.11.1938 Mitglied des GDSBb waren. Ihr Ersuchen erfolgte vergebens, Sonja Graf war bei den Machthabern in Ungnade gefallen und man wollte sie nicht für Großdeutschland spielen lassen. Später in den USA verbreitete sie die Version, dass sich Josef Goebbels persönlich gegen ihre Nominierung für das Damenturnier in Buenos Aires 1939 ausgesprochen habe.

In ihrer verständlichen Verzweiflung schien sich Sonja Graf ihrer niederländischen Freunde zu erinnern und sie kehrte Deutschland endgültig der Rücken.

Im Februar 1939 spielte sie mit der jungen Fenny Heemskerk in Amsterdam einen Wettkampf, den Sonja glatt mit 4-0 für sich entschied. Danach beteiligte sie sich am gleichen Ort an einem Sechskampf, den Salo Landau überlegen mit 4,5 Punkten vor Fritz Sämisch mit 3 Punkten gewann. Sonja Graf verlor gegen Sämisch und remisierte die restlichen Partien. Dann im März 1939 in Rotterdam ein zweiter Wettkampf mit Catharina Roodzant, den Sonja Graf wiederum, diesmal mit 3-1 gewann. Danach spieltesie nochmals im April 1939 beim Osterkongress in Margate ein durchaus ansprechendes Turnier – es sollte ihr letztes in Westeuropa sein. (Master-Reserves Section C: Sonja Graf erzielte 6 Punkte aus 11 Partien, Sieger wurde Altmeister Jacques Mieses mit 9,5 Zählern.) Die Rückkehr nach England offenbarte ihr möglicherweise weiteres persönliches Unglück: Ihr Londoner Freund lebte nicht mehr ...

Highland Patriot
Bild 23: Highland Patriot

In dieser scheinbar verfahrenen Lage bewirkte die Intervention des niederländischen FIDE-Präsidenten Alexander Rueb, dass Sonja Graf für das Damen- Weltmeisterschaftsturnier in Buenos Aires nominiert wurde. Alleine und mit sehr gemischten Gefühlen begab sie sich mit dem britischen Postschiff „Highland Patriot“ (Bild 23) auf die lange Überfahrt nach Südamerika. Dort erwartete sie ab Mitte August 1939 gespannt die Ankunft der aus Europa anreisenden Olympiadeteams, darunter auch ihre Rivalin Vera Menchik, alle auf dem belgischen Liner „Piriapolis“ versammelt. In CHESS, Oktober 1939 S. 18 f berichtete B.H. Wood von der Überraschung, die „unbezähmbare“ Sonja Graf in Buenos Aires vorzufinden. Natürlich gab dies sofort zu besorgten Spekulationen Anlass, wie der direkte Vergleich zwischen Menchik und Graf in dem ansonsten relativ schwachen Feld der 20 Teilnehmerinnen ausginge, da diese einzige Partie über den Turniersieg entscheiden könnte.

Scan der Originalnotation Menchik-Graf, Buenos Aires 1939 Runde 12
Bild 29: Scan der Originalnotation Menchik-Graf, Buenos Aires 1939 Runde 12

Es kam zum erwarteten Kopf an Kopf-Rennen: Sonja Graf (Bild 24), als „Staatenlose“ unter einer Phantasie-Flagge des fiktiven Landes „Libre“ antretend, und Vera Menchik (Bild 25) stürmten mit 4 Siegen los, einzig die Chilenin Berna Carrasco konnte noch Schritt halten. (Dora Trepat gg. Graf: Bild 26; Haltungsstudien: Bild 27) In der 5. Runde besiegte Menchik die Chilenin, während Graf gegen May Karff aus den USA unterlag, die Vorentscheidung schien bereits gefallen. Dann der 1. September 1939 - Krieg in Europa. Nach kurzen Zweifeln wurde das Turnier und damit auch das Duell Menchik – Graf fortgesetzt (Bild 28). In der 11. Runde gab die Weltmeisterin den ersten halben Punkt an die Lettin Lauberte ab, so dass sich vor der direkten Begegnung der Rivalinnen folgender Stand ergab: Menchik 10,5, Graf 10; dahinter bereits etwas abgeschlagen Carrasco und Rinder mit je 9 Punkten. Dramatischer und kaum unglücklicher konnte das „Endspiel“ nicht verlaufen: Sonja Graf überspielte mit Schwarz die passiv agierende Weltmeisterin, ließ aber die beste Fortsetzung aus, um bei Abbruch mit einem gedeckten Freibauern auf der dritte Reihe noch immer etwas besser zu stehen. Remisangebote hatte Sonja abgelehnt, sie baute ihren Vorteil konsequent aus, um dann zweimal einen leichten Gewinn zu versäumen und nach einem dritten schrecklichen Fehler letztlich noch zu unterliegen. Hier nun diese Schicksalspartie der Sonja Graf und der zweite Teil ihrer Originalnotation (Bild 29), der die nervliche Anspannung der entscheidenden Partiephase widerspiegelt:

-
E5308.1939
Vera Menchik mit dem Pokal (1939)
Bild 30: Vera Menchik mit dem Pokal (1939)

„Nie verspürte ich einen größeren Schmerz in meiner Schachkarriere“ schrieb Sonja in „Asi juega una mujer ...“ – immerhin dem Schachspieler und Psychologen Adrian de Groot Anlass, dazu in seinem Buch „Thought and Choice in Chess“, 1965, Fußnote S. 342 f eine ausführliche Anmerkung zu Sonjas Emotionalität und ihrer Schachethik zu machen. Kann man(n) als wahrer Schachkämpfer ihre moralischen Bedenken um Remisangebote in verlorener Stellung oder die in Selbsthass übergehende Verzweiflung nach Niederlagen überhaupt nachvollziehen?

Zurück zum Turnier: Es ist bewundernswert, dass Sonja Graf direkt in der nächsten Partie die Energie aufbrachte, die punktgleiche Vertreterin Großdeutschlands, Friedl Rinder, zu besiegen und somit zumindest den zweiten Platz, gemeinsam mit Carrasco, zu behaupten. Während Vera Menchik einsam an der Spitze lag und nur noch ein Remis abgab, ging das Ringen um die Vize-Weltmeisterschaft erbittert weiter. In Runde 17 konnte Sonja Graf die Chilenin um einen halben Punkt hinter sich lassen, um dann allerdings in der Folgerunde in der direkten Begegnung zu unterliegen – welch' eine Enttäuschung bahnte sich für Sonja Graf an. Doch diesmal hatte das Schicksal ein Einsehen: Friedl Rinder bezwang in der letzten Runde Berna Carrasco und Sonja Graf sicherte sich mit 16 Punkten ganze zwei Zähler hinter der einzigartigen Vera Menchik (Bild 30) den zweiten Platz. Das deutsche Team, zu sehen sind Albert Becker, Erich Eliskases, Ludwig Engels und Paul Michel, erringt den Mannschaftssieg, alle Teilnehmer bleiben in Südamerika (Bild 31).

Olympiasieger Deutschland - Albert Becker, Erich Eliskases, Ludwig Engels und Paul Michel
Bild 31: Olympiasieger Deutschland - Albert Becker, Erich Eliskases, Ludwig Engels und Paul Michel

Sonja Graf wagte es, sich dem Weltkriegsgeschehen zu entziehen und in Argentinien zu bleiben – letztlich gab es für sie keinen Grund, nach Europa zurückzukehren. Sie fand in Buenos Aires genügend Unterstützung, um ihren Lebensunterhalt als Schachspielerin zu bestreiten (Bilder 32, 33, 34 und 35). Wiederholt bot sich ihr die Chance, an den regelmäßig stattfindenden Meisterturnieren teilzunehmen – ohne allerdings erwähnenswerte Erfolge zu erzielen – die Turniere waren ja mit den dort verbliebenen (männlichen) Olympia-Teilnehmern zumeist bärenstark besetzt.

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit folgt eine Zusammenstellung derjenigen argentinischen Turniere, an denen Sonja Graf von 1939-1946 teilnahm.

Im in Anschluss an die Olympiade ausgetragenen internationalen Turnier des Circulo de Ajedrez, Buenos Aires Oktober 1939, wurde Sonja Graf Vorletzte mit 2,5 Punkten, sie startete blendend, verdarb dann sehr gute Stellungen gegen Czerniak und Ståhlberg. Der 1. und 2. Platz teilten sich M. Najdorf und P. Keres mit je 8,5/11.

Dann spielte sie 1940 im Hauptturnier des Argentinischen Schachverbandes, die genaue Platzierung konnte nicht geklärt werden.

Beim 4. Internationales Turnier in Mar del Plata im März 1941, das sehr stark besetzt war, blieb Sonja Graf unter 18 Teilnehmern nur der letzte Platz mit 2,5/17. (1. Ståhlberg 13; 2. Najdorf 12,5, 3. Eliskases 11,5.) (Bild 36)

Sonja Graf
Bild 37: Sonja Graf

Besser schnitt sie im Turnier zum 25. Jubiläum des Circulo de Ajedrez ab, das im August gleichen Jahres in Buenos Aires ausgetragen wurde. Sonja Graf landete mit 6 aus 15 auf Platz 12 und buchte u. a. einen Sieg gegen Hector Rossetto. (1. Najdorf 14, 2. Czerniak11,5, 3. Pilnik 10,5.) Mittlerweile hatte Sonja ihr äußeres Erscheinungsbild auch den südamerikanischen Verhältnissen angepasst (Bild 37).

Auch das 5. Internationale Turnier Mar del Plata, März 1942 erwies sich als zu stark besetzt für Sonja Graf, diesmal teilte sie den letzten Platz mit 3,5/17. (1. Najdorf 13,5; 2. Pilnik und Ståhlberg 13.)

Das internationale Turnier in Cordoba, September 1942, brachte für sie ebenfalls einen Mißerfolg: 1./2. Najdorf und Ståhlberg 7,5, 3./4. Michel und Pilnik 6, 5. Czerniak 5,5 vor weiteren lokalen Größen, Sonja Graf blieb Platz 9 mit mageren 1,5 Punkten.

Danach ergab sich wahrscheinlich eine längere Spielpause von mehr als 2 Jahren, erst im stark besetzten 8. Internationales Turnier in Mar del Plata 1945 war Sonja Graf nachweislich wieder aktiv. Platz 1 errang Najdorf mit 13,5 Zählern, knapp dahinter Ståhlberg mit 13; bis zum 12. Platz platzierten sich ausschließlich internationale und nationale Spitzenspieler. Sonja landete auf Platz 15/16 mit 4,5 Punkten, sie erzielte 4 Siege und 1 Remis. Hier verlor Ståhlberg (Bild 38) eine klar gewonnene Stellung gegen Sonja Graf, was ihn wohl den Turniersieg kostete.

Beim 40. Jubiläum des Club Argentino de Ajedrez Buenos Aires im Mai 1945, das H. Pilnik mit 15 Punkten gewann, landete Sonja Graf mit 6,5 Zählern aus 19 Partien auf Platz 16.

Ihr letztes Turnier in ihrer Interims-Heimat spielte Sonja Graf in Parana im Januar 1946, sie erreichte mit 4,5 Punkten aus 13 Partien den geteilten 9. und 10. Platz. Das Turnier gewann G. Ståhlberg mit 12 Punkten vor H. Pilnik mit 11,5 und R. Letelier mit 10. Obwohl Sonja Graf in diesen Turnieren zumeist auf den unteren Rängen landete, hat ihr Spiel und ihr Auftreten die argentinischen Schachspieler beeindruckt, immerhin wurde sie von Guillermo Puiggros in sein Buch „Brillantes Partidas Argentinas“ 1977 mit einer Remispartie gegen Roberto Grau (Bild 39) aufgenommen.

Sonja Graf
Bild 40: Sonja Graf

Kurioserweise war es wohl Max Euwe, der Sonjas Leben, das im peronistischen Argentinien schwierig zu werden drohte, eine entscheidende Wende gab. Die folgende Anekdote (und weitere) finden sich in „Max Euwe / Bob Spaak, Caissas Weltreich“ 1956 – wir wollen den niederländischen Ex-Weltmeister als solide Quelle ansehen:

Auf seiner Südamerikareise im Frühjahr 1947 machte Euwe in Buenos Aires Station, dort kam er durch ein fehlgeleitetes Telefongespräch im Hotel mit einem Steward der amerikanischen Handelsmarine namens Vernon Stevenson ins Gespräch. Da sich dieser Stevenson für Schach interessierte und unbedingt Euwe persönlich kennen lernen wollte, lud ihn der wie immer zeitknappe Holländer zu einem gemeinsamen Nachmittagstreff mit Sonja Graf ein. Daraus entwickelte sich eine stürmische Romanze – Sonja wurde mit ihrem „Seemann“ rasch einig und steuerte „den sicheren Hafen der Ehe“ – später einmal ihre eigenen Worte – im Direktkurs an. Und auch Vernon Stevenson war sich seiner Sache sicher und konnte - laut Euwe - selbst durch Hermann Pilniks lockere Reden nicht verunsichert werden. Dieser kam nämlich mit dem Amerikaner auf einem der Stehempfänge anlässlich des Turniers in Buenos Aires ins Gespräch, man streifte dabei auch das Thema Frauenschach. Das lief dann laut Euwe wie folgt:

Herman Pilnik
Bild 41: Herman Pilnik

Pilnik: „Schachspielen ist nichts für Frauen. Nehmen Sie zum Beispiel Sonja Graf. Sehen Sie, da steht sie. Das ist nun die berühmte Sonja Graf, eine Schachspielerin. Na, wenn Sie mich fragen: Sie ist kein Mann und keine Frau.“ Vernon Stevenson konnte da nur trocken kontern: „Oh, schönen Dank. Sie ist meine Verlobte.“ Es bleibt offen, wie Pilnik aus diesem Fettnapf herausfand, das nebenstehende Foto von Sonja Graf aus dem Jahre 1946 (Bild 40) zeigt, dass Pilnik (Bild 41) einen etwas absonderlichen Geschmack hatte, was Frauen betraf ...

Ab Sommer 1947 lebte Sonja Graf im sonnigen Südkalifornien (Los Angeles, später Palm Springs) als Mrs. Stevenson - eine Ironie des Schicksals. Seit dem durch eine Flugbombe verursachten Tod von Vera Menchik-Stevenson am 27.06.1944 (Bild 42, Text O) nannte sich Sonja in Argentinien „Schach-Weltmeisterin“, doch aus mir nicht bekannten Gründen konnte sie nicht zur Teilnahme am Weltmeisterschaftsturnier in Moskau 1949 bewegt werden. (Vielleicht kam in dieser Zeit ihr Sohn Alexander zur Welt – doch dies ist reine Spekulation.) Max Euwe bedauerte ihr Fehlen im Turnierbuch „Wereldkampioenschap Schaken Dames“, 1950 ausdrücklich und stellte an die FIDE die Forderung nach einem Match Ludmila Rudenko gegen Sonja Graf-Stevenson, da er Sonja als ungekrönte Championesse der Jahre 1944-1950 ansah.

Partie mit Isaac Kashdan
Bild 43: Partie mit Isaac Kashdan

Sonja Graf hatte bis 1952 jedoch keinerlei Ambitionen, in die Schachwelt zurückzukehren, zudem hatte in den USA das Frauenschach kurz nach dem zweiten Weltkrieg nur einen geringen Stellenwert. Deshalb war es eine große Überraschung, sie als Teilnehmerin des internationalen Turniers im April 1952 in Hollywood, genauer in Mama Weiss’ Czardas Restaurant in Beverly Hills zu finden. Das kurze Turnier (10 Teilnehmer, darunter S. Gligoric, A. Pomar, H. Steiner, I. Kashdan (Bild 43) und A. Dake sowie einige kalifornische Meisterspieler.) war initiiert von Herman Steiner, zu dessen Schachzirkel Sonja Graf-Stevenson offensichtlich gehörte. Doch dieser Comeback- Versuch wurde zu einer großen Entäuschung für Sonja, sie landete deklassiert auf dem letzten Platz und konnte nur einen halben Punkt gegen Arthur Dake erobern. (1. Gligoric 7,5; 2. Pomar 7; 3. H. Steiner 6).

Gruppenfoto Hollywood 1952
Bild 44: Gruppenfoto Hollywood 1952

Im Nachgang gab es in der kalifornischen Schachpresse harsche Kritik um Sonja Grafs Einladung, immerhin zeigt das Foto (Bild 44), dass die Meister sie gerne in ihrer Mitte aufnahmen. Aber sie selbst hatte wohl erkannt, dass ihre Spielstärke nicht ausreichte, in solcher Konkurrenz zu bestehen, und nach einer erneuten zweijährigen Pause spielte Sonja Graf-Stevenson ausschließlich in offenen Turnieren oder in reinen Frauen- Wettbewerben. Das allerdings mit hervorragenden Erfolgen, wie die folgende (möglicherweise nicht vollständige) Auflistung zeigt.

Der klare Sieg (8-0) in der kalifornischen Damenmeisterschaft 1954 war reine „Formsache“; ihre Teilnahme am US-Open in New Orleans im gleichen Jahr stellte härtere Anforderungen. Die Damen bestritten ein Rundenturnier, hinter Gisela Gresser mit 8-2 Zählern belegte Sonja Graf-Stevenson gemeinsam mit May Karff den geteilten zweiten Platz mit 7-3. Dadurch qualifizierte sich Sonja für das Kandidatenturnier zur Weltmeisterschaft in Moskau 1955; ihr letzter Versuch, doch noch Damenweltmeisterin zu werden. Die Zeichen standen gut, denn beim US-Open 1955 (Long Beach, Kalifornien), diesmal in einer Gruppe mit den Herren nach Schweizer System gespielt, wurde sie mit 6 aus 11 (+5, = 2, -4) vor Kathryn Slater Damenmeisterin (Bild 45).

Sonja Graf-Stevenson
Bild 45: Sonja Graf-Stevenson

In Moskau erwies sich die zumeist jüngere Konkurrenz um den Turniersieg als überlegen, nach gutem Start mit Kurzsiegen gegen May Karff (USA) und Berna Carrasco (Chile) und einem Remis mit Gisela Gresser (USA) zeigte sich bereits gegen die Jugoslawin Lazarević, dass Sonja mit den Eröffnungskenntnissen der jungen europäischen Meisterinnen nicht mithalten konnte. Doch erholte sie sich von dieser unnötigen Niederlage blendend und lag nach 3 Siegen in Folge vor der achten Runde mit 5,5 Punkten sehr aussichtsreich im Rennen.

Die sowjetischen Veranstalter brachten der früheren Vize-Weltmeisterin großen Respekt entgegen (Bild 46), das Bulletin Nr. 3 würdigt ihre Karriere ausführlich. Im dort wiedergegebenen Interview klingt Sonja optimistisch:

Analyse mit Grigory Löwenfisch
Bild 46: Analyse mit Grigory Löwenfisch

„ ... Richtig, unter dem Eindruck (der Erfolge in den US-Turnieren - der Autor) begann ich das Moskauer Turnier wohl zu aggressiv, aber schon das Treffen mit Lazarević, das betrüblich für mich endete, mahnte mich zur Vorsicht. Meine Gegnerinnen spielen alles andere als schlecht. Die ersten Runden setzten die Stärke der sowjetischen Spielerinnen und der Jugoslawinnen ins rechte Licht, auch C. Chaudé de Silans, E. Keller-Hermann und F. Heemskerk sind schon lange in der Schachwelt bekannt. Mit meinem Ergebnis (zum Zeitpunkt des Interviews 31⁄2 aus 5) bin ich bislang zufrieden. Ich rechne mir aus, in diesem Turnier sehr gut zu spielen, da jede meiner Partien mir wie eine Vorbereitung auf die nächste erscheint.“

Partie mit Fenny Heemskerk
Bild 47: Partie mit Fenny Heemskerk

Aber der bittere, wohl auch konditionell bedingte Einbruch blieb nicht aus: Vier Niederlagen gegen Ivanova, Keller-Hermann, Heemskerk (Bild 47) und Borisenko, jeweils nach Abbruch und zermürbenden Hängepartien, nahmen Sonja Graf-Stevenson die Chance auf den Turniersieg. Die Reporter berichteten von ihrer eindrucksvollen „Modenschau“ auf diesem Turnier: Erwartete Sonja den Sieg, kam sie im „Cowboy- Dress“ oder als „Kaukasierin“, bei Remis im französischen Kostüm und einer Niederlage stellte sie sich in der Imbracata eines spanischen Toreros. Sonja Graf-Stevenson genoss es ähnlich einer alternden Filmschauspielerin, nochmals im Rampenlicht zu stehen, aber auch der russische Wodka schien ihr Wohlgefallen zu finden, wie Salo Flohr zu berichten wusste.

Analyse mit Olga Rubzowa
Bild 48: Analyse mit Olga Rubzowa

Objektiv Sonja konnte mit ihrem Gesamtresultat nach langer Pause durchaus zufrieden sein, es entsprach ihrem damaligen Leistungsvermögen. Immerhin erzielte sie gegen die starken russischen Teilnehmerinnen 2,5 Punkte; sie besiegte Gurfinkel und die UdSSR- Meisterin Sworjikina, remisierte mit Ignatjewa, unterlegen war sie außer Borisenko auch Wolpert und der späteren Turniersiegerin, Olga Rubzowa (Bild 48). Am Ende verbuchte sie 9,5 Punkte aus 19 und landete auf Platz 10-13, punktgleich mit Gresser, Ignatjewa und Chaudé de Silans. Bezeichnend, dass Sonja Graf-Stevenson gegen alle unter 50% rangierenden Spielerinnen gewann, allen über 50% buchenden Spielerinnen (außer Sworjikina) hingegen unterlag.

Aus Moskau zurückgekehrt, verzichtete Sonja auf die angekündigte Teilnahme an der US-Damenmeisterschaft, doch sie blieb weiterhin in den USA aktiv. Einen erneuten Erfolg verbuchte sie im US-Open 1956 in Oklahoma City, wo sie wieder als bestplatzierte Dame rangierte. Dies wiederholte Sonja Graf-Stevenson beim US-Open 1957 in Cleveland, Ohio, natürlich kam ihrem Naturell der „Kampf der Geschlechter“ in diesen offenen Turnieren sehr entgegen. Dass sie die im Herman Steiner Chess Club in Los Angeles ausgetragene kalifornische Damenmeisterschaft mit 6,5 aus 7 vor Lena Grumette und Jacqueline Piatigorski gewann, erscheint da als reine Formsache.

Sonja Graf-Stevenson
Bild 49: Sonja Graf-Stevenson

Sehr viel höher zu bewerten ist der geteilte Sieg bei der US-Damenmeisterschaft 1957 in Los Angeles: Wie Gisela Gresser landete Sonja Graf-Stevenson bei sagenhaften 9,5 aus 11 – sie verlor (einmal mehr) gegen May Karff und remisierte mit Gresser. Nach diesem Erfolg wurde Sonja zusammen mit Gisela Gresser für die 1. Damen-Mannschafts-WM in Emmen in den Niederlanden im September 1957 nominiert. Doch sie kehrte nicht in das Land ihrer ersten Erfolge zurück, es spielte J. Piatigorski an Brett 2 für die USA. Fast zwei Jahre verschwand Sonja Graf-Stevenson aus dem Turniergeschehen, erst beim US-Open 1959 in Omaha (NE) landete sie wieder auf ihrem angestammten Platz der besten Dame. Das war dann für Jahre ihr letztes Turnier, die Nominierung für das im Mai 1959 in Plovdiv, Bulgarien ausgetragene Kandidatenturnier der Frauen nahm sie nicht wahr. Zur im Dezember 1959 in New York bzw. im Log Cabin Club, West Orange ausgetragenen US-Damenmeisterschaft trat sie, obwohl fest gemeldet, nicht an, es wurde dann nur mit 9 Teilnehmerinnen gespielt. Jahrelang war nichts mehr in der amerikanischen Schachpresse über Sonja Graf-Stevenson zu lesen, sie schien vergessen. Doch plötzlich gelang ihr im Mai 1964 bei der US-Meisterschaft der Damen in New York, wohin sie nach der Pensionierung ihres Mannes mit ihrer Familie umgesiedelt war, ein sensationelles Comeback. Sie errang nach einer Startniederlage gegen G. Gresser überlegen den ersten Platz mit 8,5 Punkten aus 10 Partien mit einem Punkt Vorsprung. Ihr triumphaler Sieg erschien wie ein letztes helles Glühen eines vergehenden Lichtes, zu sehr hatte der Alkohol ihre Gesundheit mittlerweile erkennbar unterminiert (Bild 49).

Am 06.03.1965 erlag Sonja Graf-Stevenson im Alter von nur 56 Jahren einem von Hans Kmoch näher spezifizierten Leberleiden, ein einst strahlender Stern war endgültig erloschen. Das weitere Schicksal ihrer Familie (vor allem ihres Sohnes Alexander Hadley Stevenson, *04.01.1951) konnte trotz Bemühungen über die Schwägerin, Mrs. Joyce Graf aus Hildenborough, Kent in England (der zweiten Frau von Alex Graf) nicht aufgeklärt werden.

Sonjas Leben, dominiert von ihrer leidenschaftlichen Begeisterung für das Schachspiel, nahm scheinbar einen faszinierenden Lauf, doch ihre Autobiographie offenbart viele tragische Momente voller Einsamkeit. Eine freudlose Kindheit, in der die Eltern ihre zahlreichen Kinder gemäß ihrer Haarfarbe und ihres Teint in wertvollere und weniger wertvolle Exemplare einteilten. Der Vater beherrschend und moralisch fragwürdig, vor körperlicher Misshandlung seiner Kinder nicht zurückschreckend – sein Sohn Alex bezeichnete ihn als „genialen Taugenichts mit Hang zur Brutalität“. Die Mutter zeigte sich gegenüber diesen Übergriffen ignorant und war zudem durch eine krankheitsbedingte Schwerhörigkeit stark eingeschränkt. Als junges Mädchen verletzte Sonja sich bei den rauhen Spielen mit ihren Brüdern bei einem Treppensturz (wohl im Haus in der Elisabethstr.) schwer, über Wochen war ihre Genesung in Frage gestellt. Immer wieder erlebte Sonja Graf schwere Enttäuschungen und fühlte sich verlassen und unverstanden, in „Yo soy Susann“ scheint sie sich dies von der Seele geschrieben zu haben. Das Schachspiel war für sie das Mittel, sich von den Zwängen und Übergriffen des Elternhauses zu befreien und im geistigen Wettstreit ihren Selbstwert zu bestätigen. Der Preis dafür war hoch, denn über Jahre verlangte sie sich ständig Höchstleistungen ab, ohne Rücksicht auf ihre körperliche und seelische Verfassung zu nehmen. Schon bald waren ihr Alkohol- und Zigarettenkonsum exzessiv, ihr Spaß an Parties und Geselligkeit, vielleicht getrieben von der Angst, wieder einsam zu sein, ließen sie kaum zur Ruhe kommen. Das bewusst maskuline Auftreten, die Aggressivität ihres Spiels, die Ausstrahlung eines Filmstars – für all diese Energieleistungen musste sie einen hohen Tribut zahlen. Sicherlich gab es glückliche Phasen ihres Lebens in den USA, aber letztlich blieb ihr der ersehnte großartige Erfolg, der Gewinn der Damen- Weltmeisterschaft im Schach versagt, und „dieser Schmerz war schier unerträglich“.

Dank:

An allererster Stelle sind hier Alfred Schattmann und Willibald Müller (beide München) zu nennen, die wohl weiterhin an der Klärung des „Schicksals der Familie Graf“ arbeiten. Endlich schaffe ich es (im Februar 2007), deren umfangreichen Erkenntnisse teilweise in diesen Text einzuarbeiten. Ohne die akribische Detektivarbeit von Herrn Schattmann im Frühjahr 2005 wäre die Jugend Sonja Grafs für immer im Dunkel geblieben. Später (ab Juli 2005) gab mir Herr Müller, der seine Recherchen auf 3 Kontinente ausdehnte, aufgrund seiner hervorragenden Sprachkenntnisse wertvolle Hilfen zum besseren Verständnis der spanischen Bücher der Sonja Graf – vor allem meine Fehlinterpretation entscheidender Passagen aus „Yo soy Susann“ konnte so korrigiert werden. Nicht unerwähnt bleiben soll Herr Archivamtsrat Anton Löffelmeier vom Münchener Stadtarchiv, der beim Auffinden der Dokumente überaus behilflich war.

Weitere Dank gilt den Freunden und Mitgliedern der Ken Whyld Association: Josep Alió (Spanien), Andy Ansel (USA), Bert Corneth (Niederlande), John Donaldson (San Francisco); Hans-Jürgen Fresen (Bochum), Tim Harding (Dublin), Peter Holmgren (Schweden), Tomasz Lissowski (Polen), Manfred Mädler (Dresden) und Alessandro Sanvito (Italien), die mir mit wertvollen Übersetzungshilfen bzw. Hinweisen und Dokumenten geholfen haben, das zusammengestellte Material zu komplettieren. Jurgen Stigter (Amsterdam) war wie oft Quelle unschätzbar wertvoller Dokumente und Photos. Sehr engagiert half Juan Morgado (Buenos Aires) bei der schwierigen Beschaffung von „Yo soy Susann“, Thomas Lemanczyk (Solingen) lieferte Übersetzungen aus dem russischen Bulletin und Vlastimil Fiala (Olomouc, Tschechien) aus Šachový týden. Bei Wolfgang Unzicker (+), Wolfgang Kamm (München) und Edward Winter (Satigny, CH) sowie Siegfried Schönle (Kassel) bedanke ich mich für Bemühungen und Hinweise, die biographischen Daten Sonja Grafs zu klären. Schachfreund Georg Böller (Hirschau) erinnerte sich an den Artikel von Hans Kmoch, für den Hinweis darauf bin ich ihm sehr dankbar. Manuel Fruth (Unterhaching) gilt mein Dank für die Überlassung der Partienotation.

Begeistert war ich vom Austausch mit Jennifer Shahade (New York City), deren Artikel über Sonja Graf im New in Chess Magazine Nr. 7/2004 und vor allem der längere Beitrag in ihrem Buch Chess Bitch. Women in the ultimate intellectual sport (Siles Press, Los Angeles 2005, ISBN 1-890085-09-X, S.28-39) mir ganz besonders gefällt.

Last not least danke ich Ralf Binnewirtz, der die aufwändige Aufgabe übernommen hat, diesen Text mit den Bild- und Dokumenteinträgen so perfekt internet-fähig zu machen.

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