Matthias Aumüller - Das Schachspiel in der europäischen Literatur

von Siegfried Schönle

Das Schach hat wie die Liebe, wie die Musik die Fähigkeit, den Menschen glücklich zu machen.

Quelle: Dr. Tarrasch, Das Schachspiel. Systematisches Lehrbuch für Anfänger und Geübte, Berlin, 1.Aufl. 1931: Deutsche Buch-Gemeinschaft, Vorwort S. 4.

oder

Für das Schach ist wie für die Liebe ein Partner unentbehrlich.

Quelle: Stefan Zweig (Schriftsteller); https://www.schachbund.de/zitatensammlung.html

Ob der Leser der Abhandlung Das Schachspiel in der europäischen Literatur von Matthias Aumüller „glücklich“ oder glücklicher wird, das sei dahingestellt. Ganz sicher aber erfährt er eine Fülle an Wissen und Hintergründen - europaweit - zu den vorgestellten Texten, in denen es „vornehmlich ... um die Liebe und ihre Verbindung zum Schach“ (S.9) geht.

Das hier sehr zu empfehlende Buch enthält ausführliche Betrachtungen zu fünf großen Schach-Poemen

  • Fenollar, de Castellvi, Vinyoles - Scachs d’ Amor (nach 1470)
  • Vida - Scacchia ludus (1527)
  • Kochanowsky – Szachy (ca 1564)
  • Marino – L‘ Adone (1623)
  • Jones – Caissa (1763/1772)

Sie alle haben eines gemeinsam, sie handeln von Schachpartien und der Liebe der Spielerinnen und Spieler zueinander!

Leserinnen und Leser erhalten einen Einblick in die Mechanismen der europäischen Literaturgeschichte, die sich über die Jahrhunderte nie isoliert in einem Land, sondern immer im Austausch der verschiedenen Literaturen entwickelt hat. Altkatalanisch, Neulateinisch, Polnisch, Italienisch, Englisch – das sind die Sprachen, in denen die Schach-Poeme verfasst sind. Natürlich können wir diese auf Deutsch lesen. Ihnen gemeinsam ist, dass jeweils eine Schachpartie ihr Hauptthema ist. (Klappentext)

Die Gedichte, hier Schach-Poeme genannt, werden der überwiegenden Mehrheit der an der Schachgeschichte in all ihren Facetten Interessierten zumindest vom Namen her bekannt sein. Lyrikbücher gehören auf dem Buchmarkt sicher nicht zu den Bestsellern! Wer allein deswegen, es sind ja „nur“ Gedichte, kein weiteres Interesse zeigen kann oder will, wird hier schon auf das ausführliche Inhaltsverzeichnis verwiesen. (Für eine größere Ansicht bitte auf das Bild klicken)

Also noch einmal: Es mag der eine oder andere Schachkollege allein damit zufrieden sein, die Gedichte vom Titel her zu kennen, so muss doch eindringlich gesagt werden, dass dieses Buch keine akribische Gedichtinterpretation eines Philologen ist.

Was erwartet den Leser?

„Ein Streifzug durch die Literatur des Mittelalters und die Schachgeschichte der frühen Neuzeit, bei dem die Texte und wichtigsten Passagen ausführlich vorgestellt und im Kontext der Zeit erklärt werden“ (S. 8). Hinzu kommen Kapitel mit biographischen Informationen zu den Autoren sowie Mitteilungen zu den jeweiligen historischen Hintergründen. Selbstverständlich bietet der Autor auch fundierte Interpretationen an.

Das einleitende Kapitel (S.11-84) über die mittelalterliche Literatur zum Schach, zeigt, wahrscheinlich für manche überraschend, sowohl die große Bandbreite an Schachmotiven in der Literatur als auch die weite Verbreitung des Schachspiels in der europäischen Kultur der damaligen Zeit. Zu nennen sind hier die thematischen Aspekte woher kommt das Schachspiel, ferner: der mittelalterliche Klerus, der 2. Stand, und das moralische Problem: Ist es christlich, Schach zu spielen und mit diesem Spiel Zeit zu verbringen? In diesem Zusammenhang liest der Leser eine gute Erklärung Einsiedeln, dem versus de scachis aus dem 10. Jh. Gefolgt von dem Schachspiel als „Modell“ zu einer geordneten Gesellschaft anhand der Predigten Jacobus de Cessolis. Aber das Schachspiel ließ noch Weiteres zu: Es war Sinnbild des Daseins, verwies auf Dualitäten wie Leben und Tod, Sünde und Heilserwartung. Die Bildsprache, die mit Hilfe des Schachbrettes und seiner Figuren ermöglicht wurde, strahlte auch in andere Kulturbereiche aus, weil mit ihm schwere Zusammenhänge sich erklären ließen. – Diese Aspekte lassen sich grob dem religiösen Kontext zuordnen.

Eine wirklich hilfreiche und gut zu lesende Überschau gelingt dem Autor, indem er sich auch der adligen / höfischen Lebenssphäre zuwendet: Schach und Ritter sowie die Vielzahl der heute bekannten Schachszenen in höfischen Epen und Romanen. Angedeutet sei dies durch Tristen und Isolde, dem Parzival wie auch Flore und Blanscheflur. In allen Texten spielt das zentrale Thema – Schach und Liebe – eine Rolle. Selbstverständlich erlaubt der Aufbau ein Überspringen der folgenden Inhalte (Schach als Liebesmetapher und- symbol; Die Allegorie vom Liebeschach) um mit Gewinn die Zusammenfassung (S. 83-84) zu studieren.

Ein solch subjektiv gewichtetes Leseinteresse ist dem klaren Aufbau zu verdanken. Das gilt auch für die folgenden Kapitel, in denen die einzelnen Schachgedichte vorgestellt werden. Auch hier kann man sich, je nach Interesse, auf Vida oder William Jones oder ... begrenzen. Informationen zu den Autoren, den zeitgeschichtlichen Hintergründen (Renaissance, Barock, 18. Jh.), den Inhalten der Gedichte und deren Sprache, nicht zu vergessen natürlich auch die vom Autor angebotenen Interpretationen.

Wie geschieht das alles?

Vor allem in einer gut zu lesenden Sprache, die verständlich ist, weil auf Fachbegrifflichkeiten weitgehend verzichtet wird. Sollten Fachbegriffe notwendig sein, werden sie gut erklärt. Lesefreundlich sind die Abhandlungen auch, weil keine Fußnoten den Lesefluß hindern. Jedes Kapitel nicht mit Hinweisen auf Sekundärliteratur „belastet“ ist, sondern diese sich in gesonderten Abschnitten am Ende, bei Bedarf, nachlesen lassen.

Der Gang der Analyse lässt sich grob so zusammenfassen:
Das katalanische Schachgedicht Scachs d‘ Amor ist in mancherlei Hinsicht mittelalterlich geprägt. Die im Gedicht vermittelte Spielweise und die Sprache reichen in die beginnende Neuzeit (S. 180f). Scacchia ludus des Bischofs Vida verzichtet auf das Thema Liebe, betont hingegen das Spiel als göttliche Kunst. Weltlicher geht es bei Jan Kochanowski zu. In dessen Gedicht Szachy in einer feudalen Welt zwei Männer um die Gunst einer Frau spielen. Allerdings ist hier die Frau nicht mehr die aktive, sondern Objekt des Geschehens. Dies unter dem Eindruck des Gedichtes von Vida, dem der polnische Dichter seine Hochachtung erweist.
Das Zeitalter des italienischen Barocks wird mit dem Poem L‘ Adone des Giambattista Marino plastischer. Adonis, der schöne Jüngling und Jäger, und Venus, die Göttin der Liebe, sind die Handelnden und G. Marino erlaubt zum Schluß hin deren Vereinigung.

Schachlich von besonderem Interesse ist der Gesang XV. Ein Schachbrett steht auf einem Tisch, dessen Pracht ausführlich beschrieben wird, die Figuren werden erklärt wie auch die Schachregeln, die auch das Ziel nennen. Das Spiel dient dem Zeitvertreib der Liebenden. Es beginnt mit einem Doppelschritt des Damenbauern durch Venus, Abtausch von Bauern geschieht wie auch die Rochaden. Die Springergabel ist dem Dichter schon bekannt. Mit göttlicher Hilfe, eben Merkurs, mit Falschspiel und dem Einsetzen schon geschlagener Figuren gelingt Adonis scheinbar ein Sieg. Doch Venus durchschaut dies, obwohl sie zuvor unter dem Brett mit den Füßen ihre Liebe signalisiert, streicht sie ärgerlich alle Figuren vom Brett. Strittig ist daraufhin, wer dieses Spiel gewann.

Da die CH&LS (vormals KWA) zahlreiche Mitglieder in den USA und in England hat, möchte ich etwas ausführlicher auf das Gedicht Caïssa von William Jones eingehen.

Caïssa, or the Game at Chess, a Poem - so lautet der vollständige Titel des Gedichtes, mit dessen Name sich der Autor berühmt gemacht hat, weil heute die Schachgöttin Caïssa wohl bekannt ist.

Das Kapitel VI bildet mit dem Gedicht Caïssa von William Jones (1746-1794) den Abschluss der Untersuchung Matthias Aumüllers.

Im Jahr 1763, im Alter von 17 Jahren, schrieb Sir William Jones das Gedicht Caïssa in lateinischen Hexametern, mit starken Bezügen zu scacchia, ludus, das 1527 von Marco Girolamo Vida veröffentlicht wurde.

M. Aumüller nennt das Gedicht „ein spätes Echo“ auf Vida.

W. Jones gab mit seinem Jugendwerk einen mythischen Ursprung des Schachs an, der zu einer Art Mythos geworden ist. Caïssa wird seitdem als „Göttin“ des Schachs bezeichnet, wobei ihr Name in verschiedenen Zusammenhängen im modernen Schachspiel, auch in der Sprache der Spieler, verwendet wird.
Eher bekannt als Wissenschaftler ist W. Jones, er veröffentlichte auch eine englischsprachige Version des Gedichts.

In der Rahmenerzählung spielen zwei Nymphen, Sirena und Delia, Schach. Daphnis ist ihr Lehrer und Schiedsrichter. In der Binnenerzählung, in einer mythischen Landschaft, jagt eine Baumnymphe einen Hirsch, ist aber vor allem für ihre Schönheit berühmt, das ist Caïssa.

Im Gedicht wehrt die Nymphe Caïssa zunächst die Liebesbemühungen des Kriegsgottes Mars ab. Verschmäht sucht Mars die Hilfe eines Gottes, der das Schachspiel als Geschenk für Mars erschafft, um Caïssas Gunst zu gewinnen. Mars erhält ihre Zuneigung, allerdings nur, weil diese an seinem Schachbrett Gefallen findet.

Auch in der weiteren Rahmenerzählung, in der Daphnis eine auf Verlust stehende Partie für Sirena fortsetzt, gelingt ihm kein Gewinn, da die Schönheit Daphnis siegt. Dies alles während eines Königsgambits, in der auch eine Bauernumwandlung beschrieben wird.

Detaillierte biographische Bemerkungen schließen das Kapitel. Der Leser erfährt von weiteren Fähigkeiten des Dichters, u.a. dass er 11 Sprachen beherrschte [Update 2023-12-09] (S. 239). Nach seiner Hochzeitsreise, ca 1783, trat Jones eine Richterstelle am Gerichtshof in Bengalen an. In Folge dessen beschäftigte er sich mit dem Sanskrit. Am Ende seines Lebens soll er sogar 28 Sprachen in unterschiedlicher Intensität beherrscht haben [für die Hinweise dankt der Autor Harry Schaack, KARL]. [/Update]

In der Einleitung formuliert der Autor seine Ansprüche und es ist abschließend zu fragen: Gelingt es ihm, diese zu verwirklichen.

Die Sprache des Autors ist bewusst gewählt und nicht die eines Fachwissenschaftlers mit spezifischer Fachterminologie. Die stilistische Einfachheit ist eine gute Wahl des Autors, um die Distanz zwischen dem Dargestellten und dem Leser zu minimieren, um eine möglichst breite Leserschaft anzusprechen.

Im Kapitel zu Vida formuliert der Autor eine Auffassung, man müsse nicht „allzuviel“ über literarische Vorgänger wissen, um ein Werk verstehen zu können. „Was man wissen muss, enthält es idealerweise selbst.“

Bezogen auf das Buch kann man feststellen, dass diese Abhandlung in hohem Maße das enthält, was man zum Schachspiel in der Literatur vom Mittelalter bis in die Neuzeit wissen sollte oder wissen könnte.

Am Schachspiel und seiner Geschichte Interessierte sollten es wirklich lesen!

Matthias Aumüller

Das Schachspiel in der europäischen Literatur

  • HerausgeberJoachim Beyer Verlag, 2023
  • ISBN978-3-95920-190-2
  • Sprachengerman
  • Seitenanzahl266
  • Formatepaperback
  • SonstigesEUR: 34,80

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